Filmstill zu "Einfach Blumen aufs Dach"

Jochen Kraußer

Regisseur

7. Februar 1943 in Hildburghausen

Biografie

Jochen Kraußer

in der DEFA-Filmküche am 13. August 2007

In der Arbeitsgruppe Dokumentarfilme für Kinder- und Jugendliche entwickelt Jochen Kraußer als Regisseur seine eigene Handschrift. In seinen Beobachtungen schaut der Filmemacher auf Individuen. Er kann sich eine Fangemeinde aufbauen, denn seine Filme präsentieren in ihren banalen, komischen und ungewöhnlichen Geschichten Widerstände gegen verordnetes kollektives Verhalten.

Jochen Kraußer wird am 7. Februar 1943 in Hildburghausen geboren. Dort besucht er von 1950 bis 1962 die Schule und beendet diese mit dem Abitur. Danach beginnt er eine Ausbildung zum Krankenpfleger an einer Medizinischen Fachschule, die er 1964 mit dem Examen abschließt. In der Folge arbeitet er als Techniker an der künstlichen Niere, orientiert sich dann aber um und bewirbt sich an der Deutschen Hochschule für Filmkunst Potsdam-Babelsberg. Ab 1966 studiert er dort Filmwissenschaft. 1971 beendet er das Studium mit dem Diplom.

Schon während seiner Studienzeit ist er als Regisseur tätig. 1969 wird er beim DEFA-Studio für Dokumentarfilme angestellt und bleibt dort bis 1990. Zunächst arbeitet er in der Auslandsinformation des DEFA-Studios, die unter Aufsicht des Außenministeriums und der Außenabteilung des Zentralkomitees steht und Filme produziert, die den Sozialismus nach außen tragen sollen. Erste Erfahrungen sammelt Jochen Kraußer mehrere Jahre bei der Produktion des DDR-Magazins, später als Regie-Assistent und Redakteur beim Dokumentaristen Heinz Müller, bis er seinen ersten Regie-Film vorlegen kann. Nach einem Angebot, einen Film in der Arbeitsgruppe Kinder- und Jugendfilm des Dokumentarfilm-Studios zu drehen, bleibt er in der Gruppe, zu der auch  Konrad Weiß,  Ernst Cantzler,  Günter Jordan,  Günter Meyer, Peter Petersen, Petra Tschörtner und  Roland Steiner gehören. In der Zeit entstehen zahlreiche Filme für Vorschulkinder, die Filmemacher drehen Arbeiten für Kindersendungen und jeder von ihnen beginnt, den gegebenen Rahmen mit den eigenen Arbeiten zu sprengen und eine eigene Handschrift zu entwickeln.

Filmstill zu "Endlich fliegen"

ENDLICH FLIEGEN (R: Jochen Kraußer, 1989) Fotograf: Jochen Denzler

Filmstill zu "Lerchenlieder"

LERCHENLIEDER (R: Jochen Kraußer, 1980) Fotograf: Rainer Schulz

SCHMETTERLING (1976, Auftragsproduktion für das Fernsehen der DDR) wird sein Debütfilm. Hier beobachtet der Regisseur eine Kindergartengruppe, die Raupen sammelt, füttert und dann die Verwandlung zum Schmetterling verfolgt. Was sich nach Banalität anhört, wird vom Filmemacher poetisch in Szene gesetzt; der Film gewinnt zahlreiche Preise. ENDLICH FLIEGEN (1989) schaut Jahre später auf die jetzt 19-jährige Andrea, eines der damaligen Mädchen und befragt sich nach ihren Träumen und ob diese zur Realität geworden sind.

In BRUNO GREINER PETTER - GENANNT 'DER BIMMEL' (1979) erzählt Bruno Greiner-Petter aus seinem Leben. Der Regisseur lässt sich von den Geschichten des alten Kunstglasbläsers genauso einfangen, wie der Zuschauer von dem Film. In seinen Erzählungen, die der Filmemacher unkommentiert in Szene setzt, wird eine persönliche Sicht auf existenzielle Belange präsentiert, weise und mit Witz. LERCHENLIEDER (1980) erzählt von der Freundschaft zwischen einem alten Musikautomatensammler und einem Jungen in einem thüringischen Dorf. Der Film geht über ein Porträt hinaus, thematisiert die Vision eines harmonischen Zusammenlebens der Generationen. Aus dem scheinbar Banalen entsteht Tiefgang. Der Dokumentarfilm steckt voller Poesie, die Bilder lichten das Leben ab, nichts wirkt inszeniert oder gekünstelt. Auf den Einzelnen konzentriert sich der Filmemacher auch in dem 25-minütigen DIE DEMONSTRATION (1983). Hier reflektiert ein junger Teilnehmer am Rande der jährlichen Liebknecht-Luxemburg-Demonstration zur Gedenkstätte der Sozialisten auf dem Zentralfriedhof Berlin-Friedrichsfelde über die Geschichte und über sich selbst. HERBSTBLÄTTER (1985) zitiert aus den Briefen von Ernst Thälmann an seine Frau und seine Tochter.

Jochen Kraußer ist nicht an der klassischen Reportage interessiert, sondern experimentiert mit Formen und Stilen, sucht nach Möglichkeiten, das Dokumentarische mit Inszeniertem aufzubrechen. In dem 30-minütigen Film ÜBER DIE BERGE (1981) geht das Filmteam in eine 4. Klasse und lässt sie über das Gedicht von Bertolt Brecht nachdenken, ihre Eindrücke aufmalen. Herausgekommen ist ein rhythmisch-impressionistischer Film, der über das Gedicht hinausweist, greifbar und eindringlich Gefühle, Gedanken sowie Wünsche der Kinder präsentiert und diese mit viel Symbolkraft in einen größeren Kontext stellt.

Filmstill zu "Die Demonstration"

DIE DEMONSTRATION (R: Jochen Kraußer, 1983) Fotograf: Christian Lehmann

Filmstill zu "Der Auftrag"

DER AUFTRAG (R: Jochen Kraußer, 1988) Fotograf: Rainer Schulz

Um ästhetische Aneignung geht es auch in DIE GEBURT DER KÖNIGIN (1984). Jochen Kraußer präsentiert dem Zuschauer die Orgel. Er zeigt Orgeln in Dorf- und Stadtkirchen in Thüringen und Sachsen. Der Zuschauer erfährt Wissenswertes über den Herstellungsprozess, nimmt die Klangwelt des Instruments auf. Das Porträt DES - CE - ES - DE (1985) begleitet Kristian Körting, der auf einem einsamen Gehöft als Keramiker und Musiker lebt. Er baut eine Orgel, deren Flöten er aus Ton fertigt. Jochen Kraußer beobachtet den Entstehungsprozess der Orgel. Die Auswahl seiner Protagonisten verweist auf ein Arbeitsprinzip des Filmemachers: Er schaut auf die vermeintlichen Ränder der Gesellschaft, auf Menschen, die nicht im öffentlichen Interesse stehen, die sogenannten Außenseiter. Seine Helden sind meist skurrile, aber weise Geschichtenerzähler, Lebenskünstler.

Das zeigt sich auch in DIE LEUCHTKRAFT DER ZIEGE (1987), einem der wichtigsten Werke von Jochen Kraußer. Der Film wird trotz Ablehnung durch das Fernsehen der DDR zum Kult in ostdeutschen Filmclubs, denn er erhält erstaunlicherweise eine Kino-Zulassung. Wieder reist der Filmemacher nach Thüringen, dreht am genehmigten Drehbuch vorbei und präsentiert den Zuschauern die Realität eines Dorfes. Als Akteure mit dabei sind unter anderem eine Kindergartengruppe, ein Bahngleis-Streckenläufer, eine Amateurfilm-Gruppe. Absurd, skurril, schräg sind einige Adjektive, die dem grotesken Dorf-Porträt zugewiesen werden. Wieder ist es die Gegenbewegung, die den Film auszeichnet: Nicht das kollektive Verhalten und Denken steht im Vordergrund, sondern der Einzelne, der in seinem Leben einen Sinn finden muss. Ähnlich humorvoll und zugleich tiefsinnig geht in zwei weiteren Filmen zu: BILDER EINER AUSSTELLUNG (1988) schaut auf Akteure einer Saalfelder Humorausstellung, AUFTRAG (1988) auf die Massenherstellung kleiner Karl-Marx-Büsten. Töpfermeister Otto Engelmann stellt seit 1973 Karl-Marx-Büsten aus Keramik her.

Filmstill zu "Leuchtkraft der Ziege - Eine Naturerscheinung"

LEUCHTKRAFT DER ZIEGE - EINE NATURERSCHEINUNG (R: Jochen Kraußer, 1987) Fotograf: Christian Lehmann

Filmstill zu "Leuchtkraft der Ziege - Eine Naturerscheinung"

LEUCHTKRAFT DER ZIEGE - EINE NATURERSCHEINUNG (R: Jochen Kraußer, 1987) Fotograf: Christian Lehmann

WIND SEI STARK (1989) schaut auf Menschen, die Windräder bauen. Auch in diesem Film zeigt sich die Kraft des unabhängigen Denkens des Regisseurs und sein spielerischer Umgang mit filmischen Mitteln.

„Der fertige Film schafft es im Spätherbst seltsamerweise nach Oberhausen zum Dokfilmfestival und erntet dort Unverständnis, Kopfschütteln und Ablehnung. Ein geneigter Kritiker erlaubt sich gegenüber dem Autor die Frage, was denn ein solcher Film in seiner spielerischen Harmlosigkeit soll und wo sich seine gesellschaftspolitische Relevanz verberge. Ich antworte, dass ich es auch nicht genau sagen kann, aber irgendwie ahnte, dass es nach all der verständlichen Masseneuphorie und -hysterie schon bald wieder mehr auf den Einzelnen ankommen wird, dass dieser Einzelne eines Morgens aufwachen und sich fragen muss, wer bin ich ohne die anderen, was kann ich noch, wer nimmt mich wahr, und vor allem, was bin ich mir selbst wert.“

Jochen Kraußer ist auch nach der Wiedervereinigung Deutschlands als Regisseur tätig. In DER GORDISCHE KNOTEN (1991) über die Theatergruppe „Zinnober“ aus dem Berliner Stadtbezirk Prenzlauer Berg reflektiert der Filmemacher über Nähe und Entfremdung in Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche. Er dreht unter anderem die Dokumentation CINQUILLO CUBANO (1997) über die kubanische Musikerfamilie Vistel Colombié, deren Mitglieder über Jahrzehnte die Popularmusik mitgeprägt haben. In ABSCHIED VON MECHOWOJE (2000) setzt er sich mit den fast ausgestorbenen Sitten, Gesängen und Gebräuchen in Dörfern im russisch-belorussischen Grenzgebiet auseinander.

Verfasst von Ines Walk. (Stand: Januar 2015)

Auszeichnungen

  • 1977: SCHMETTERLING - Kinderfilmfestival Gera: Preis des VFF
  • 1983: ÜBER DIE BERGE - Kinderfilmfestival Gera: Goldener Spatz
  • 1985: MANKMUSSER FANTASIEN - Kinderfilmfestival Gera: Goldener Spatz
  • 1987: GEBURT DER KÖNIGIN - Kinderfilmfestival Gera: Preis des Oberbürgermeisters

Literatur

  • Ralf Schenk:  Metamorphosen des Unscheinbaren – Der Dokumentarfilmregisseur Jochen Kraußer, in: film-dienst 03/1999.
  • Ralf Schenk: Die Leuchtkraft der Ziege. Vier Filme von Jochen Kraußer, in: Filmblatt, 10/1999.
  • Günter Jordan: Erprobung eines Genres. DEFA-Dokumentarfilme für Kinder 1975 - 1990, Remscheid 1991.
  • Jutta Grabas: Notwendigkeit der Komik im zeitgenössischen Dokumentarfilm, um seine Unterhaltungsfunktion bei der Aneignung der Wirklichkeit von der heiteren Position aus zu gewährleisten anhand von zwei Filmbeispielen des Regisseurs Jochen Kraußer: "Bruno Greiner-Petter, genannt Der Bimmel" und "Mankmußer Fantasien", Diplomarbeit, Standort: Hochschule für Film und Fernsehen Potsdam-Babelsberg, 1989.
  • Ulrich Weiß: Der freie Flug der Lerchen, in: Film und Fernsehen 01/1983.
  • Martina John: Vergleichende Analyse der Montage dreier Kinderdokumentarfilme von Jochen Kraußer, Diplomarbeit, Standort: Hochschule für Film und Fernsehen Potsdam-Babelsberg, 1981.
  • Jochen Kraußer: Wesen und Funktion des Kurzfilms als auslandsinformatorisches Medium, dargestellt an den außenpolitischen Beziehungen der DDR zu den jungen Nationalstaaten Afrikas und Lateinamerikas, Diplomarbeit, Standort: Hochschule für Film und Fernsehen Potsdam-Babelsberg, 1967.
  • Jochen Kraußer: Die Montageprinzipien Romms in seinem Film "Neun Tage eines Jahres", Jahresabschlussarbeit, Standort: Hochschule für Film und Fernsehen Potsdam-Babelsberg, 1967.

DEFA-Filmografie

Eine erweiterte Filmografie können Sie unter filmportal.de einsehen.

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