Filmstill zu "Lotte in Weimar"

Wiederentdeckung einer älteren Dame.

Skizzen zur Schauspielerin Helga Göring

von Ralf Schenk

Eigentlich sollte Inge Meysel die Rolle spielen. Doch nachdem sie das Drehbuch gelesen hatte, schüttelte sie nur den Kopf: Solch eine eisige Dame passte nun doch nicht zu ihrem Image als „Mutter der Nation“. Oskar Roehler war gezwungen, sich neu umzusehen, und stieß auf die ostdeutsche Darstellerin Helga Göring. Zwar hatte auch sie sich - zumindest im Kino und Fernsehen der DDR - als gütige alte Dame etabliert; im Gegensatz zu Inge Meysel aber wagte die 78-jährige Dresdnerin den Sprung ins andere Fach und kam so zu spätem Ruhm: Als großbürgerliche Frau Flanders, die Mutter der Schriftstellerin Hanna in „Die Unberührbare“, zeichnete sie das Psychogramm einer Frau, die eine ganze Familie beherrscht und ihre Seele hinter einem dichten Schleier aus Arroganz und scheinbarer Gefühllosigkeit verbirgt. Helga Göring – und ihr Film-Partner Charles Regnier – entwerfen mit knappen Strichen die Geschichte einer Ehe, so, wie sie niemandem zu wünschen ist: Zwischen den schweren Möbeln sind kaum noch Spuren von Liebe und menschlicher Wärme zu finden - die Villa als kaltes Grab schon zu Lebzeiten.

Mit dieser Rolle brachte sich Helga Göring nachdrücklich in Erinnerung. 40 Jahre lang war sie im Osten ein Star, spielte in mehr als 20 Kino- und über 100 Fernsehfilmen, bis zur deutschen Vereinigung, nach der die Angebote zunächst spürbar nachließen. Am Theater hatte sie schon Ende der 30er-Jahre debütiert, war während des Kriegs u.a. als Gretchen im „Urfaust“ am Schauspielhaus Hamburg zu sehen und 1947 in ihre Heimatstadt Dresden zurückgekehrt. Dem dortigen Publikum verdankte sie ihre ersten großen Nachkriegserfolge: Man jubelte ihr als Emilia Galotti, Heilige Johanna oder Klärchen im „Egmont“ zu. Kritiker lobten ihre Sprachgewalt, die sie mit fester, relativ dunkler Stimme immer wieder unter Beweis stellte. Sie schien zur Tragödin prädestiniert – obwohl sie zwischendurch auch mal an einer Berliner Operettenbühne gastiert hatte und später, in den 70er- und 80er-Jahren, in zahlreichen Fernsehschwänken und heiteren Serien auftrat.

Die DEFA betraute Helga Göring vor allem mit ernsten Aufgaben: Häufig stellte sie vereinsamte, leidende Frauen dar, auf deren Antlitz die Schmerzen einer ganzen Generation sichtbar wurden. Sie war kaum 30, als sie vom Dresdner Generalintendanten Martin Hellberg mit nach Babelsberg genommen wurde; in seinem Kinodebüt „Das verurteilte Dorf“ (1952) spielte sie eine Bauerntochter, die in glückloser Ehe mit einem ehemaligen Offizier lebt und jede Spur von Jugendlichkeit an den ungeliebten Mann verloren hat. Der Film war in der Bundesrepublik Deutschland angesiedelt und zeigte, wie sich ein fränkisches Dorf gegen die Räumung und den Bau eines amerikanischen Militärflugplatzes wehrt. Dieses klassenkämpferische Pathos wurde durch das Spiel der Göring unterstützt – und zugleich gemildert: weil hier ein persönliches, privates Schicksal glaubhaft nachvollzogen wurde. Am Ende des „verurteilten Dorfs“ reihte sich auch diese Figur freilich in die Volksfront ein: Die gedemütigte Frau entledigte sich aller Fesseln, überwand ihre Ängste, trennte sich von ihrem Mann und stellte sich, neben dem Bürgermeister und dem Pfarrer, an die Seite ihres Jugendfreundes, der zum Anführer des Aufstands avanciert war.

Zwei Jahre später sah man Helga Göring in einem anderen wichtigen DEFA-Film, „Stärker als die Nacht“, den Regisseur Slatan Dudow als Gegenentwurf und Polemik zu Kurt Maetzigs Thälmann-Opus verstanden wissen wollte. Er erzählte Geschichte nicht „von oben“, aus der Führerperspektive, sondern aus der Sicht einer Proletarierfamilie, die sich trotz vieler Leiden immer wieder dem Terror widersetzt. In der Figur der Gerda Löning bündelten sich die Erfahrungen Hunderter Antifaschistinnen, deren Männer in den Kerkern der NS-Zeit verschwunden waren und die dennoch an ihrer Hoffnung von einer „besseren Welt“ festhielten. Von da ab gehörte Helga Göring lange Zeit zum unverzichtbaren Schauspieler-Reservoire der DEFA. Frank Beyer besetzte sie in seinem Debüt „Zwei Mütter“ (1957) als Kriegswitwe, deren Säugling während einer Bombennacht ums Leben kommt und die im Krankenhaus das Baby einer französischen Zwangsarbeiterin „annimmt“. Leid, Einsamkeit und die Lust auf Leben kennzeichneten ihre Figur in „Berlin – Ecke Schönhauser...“ (1957): Wenn der Chef und Geliebte kommt, wird die Tochter auf die Straße geschickt; die allein stehende Mutter weiß um ihre Schuld, vermag sich aber kaum aus der Umklammerung der Umstände zu lösen. Herausragend auch ihre Rolle in Kurt Maetzigs „Schlösser und Katen“ (1957): Eine Umsiedlerin, die, an die Spitze einer landwirtschaftlichen Genossenschaft berufen, von den Großbauern gehasst und mit dem Tode bedroht wird und die schließlich einem Attentat erliegt. All diese Filme hielten für die Schauspielerin kaum ein Lächeln bereit. Das Glück der von ihr gestalteten Frauen war oft den Zeitläufen zum Opfer gefallen; alle Blicke und Gesten machten eine große Sehnsucht nach Nähe, Geborgenheit, menschlicher Wärme spürbar. Diese „Sehnsucht hinter der Fassade von Pflichterfüllung und Selbstbescheidung verleiht ihren Rollengestaltungen Tiefe und Reichtum“, schrieb eine Rezensentin und verwies auf einen symptomatischen Satz, den Helga Göring in „Das verurteilte Dorf“ zu sagen hatte: „Wenn man nur schreien dürfte, schreien...“

Seit Anfang der 60er-Jahre versuchte sie, sich immer mal wieder aus diesem Rollentypus zu lösen; ihre Aufgaben bei der DEFA wurden facettenreicher. Die Erfahrungen ihrer Kindheit in einem bürgerlichen Elternhaus – ihr Vater war ein angesehener Arzt – flossen in die Gestalt einer wohlhabenden, nach innen emigrierten Rechtsanwaltsgattin in dem Kriegsdrama „Die Abenteuer des Werner Holt“ (1964) ein. In dem verbotenen Film „Denk bloß nicht, ich heule...“ (1965) spielte sie eine Arbeiterin, deren naiver Idealismus dazu beiträgt, den Sohn aus dem realsozialistischen Alltag ausbrechen zu lassen. Ralf Kirsten besetzte sie an der Seite von Manfred Krug in dem deftigen Mantel- und Degen-Spektakel „Mir nach, Canaillen!“ (1964) als saufende adlige Großmutter, der nichts weiter geblieben ist, als die Weltgeschichte lallend zu kommentieren. Ebenso gegen den Strich gebürstet war die bourgeoise Dame in dem Krimi „Mord am Montag“ (1968), in dem sie kriminelle Intrigen stricken, boshaft und gefährlich sein durfte. In der Burleske „Nelken in Aspik“ (1976) schließlich trat sie als „Kollegin Kühn, Direktor des Hauses der Werbung“ auf den Plan: eine von sich überzeugte Chefin, in deren Umfeld dennoch alles schief läuft – nicht zuletzt, weil jede Werbeaktivität in der DDR von vornherein zum Scheitern verurteilt war.

Sicher besitzen solch grotesken, skurrilen, hintergründigen Rollen im Werk von Helga Göring eher Seltenheitswert. Denn auch das Fernsehen in der DDR, dem sie seit Mitte der 60er-Jahre vor allem zur Verfügung stand, setzte zunächst, genau wie die DEFA, mehr aufs Pathetische, betraute sie mit Figuren wie Käthe Kollwitz, Annette von Droste-Hülshoff oder der (fiktiven) Titelheldin in „Die große Reise der Agathe Schweigert“ (1970), wieder eine Antifaschistin. Dann wurde Helga Göring vom bodenständig Heiteren eingeholt, in vielen Variationen... Von ihren Nach-Wende-Rollen bleibt wohl vor allem die Mutter in Nicos Ligouris’ Kammerspiel „Herz aus Stein“ (1994) im Gedächtnis: ene alte Dame, die sich in Stummheit und Lethargie flüchtet, weil sie spürt, dass sie ihren Sohn zwar zu einem erfolgreichen Geschäftsmann, aber nicht zu einem glücklichen Menschen erzogen hat. Von heute aus gesehen, sieht das wie eine Vorstudie zu ihrem Auftritt in „Die Unberührbare“ aus. Ein Glück, dass Inge Meysel absagte.

Ralf Schenk (filmdienst 13/2000)

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