Filmstill zu "Lotte in Weimar"

Hie Parteiarbeiten, hie Realisten.

47 Jahre DEFA-Dokumentarfilm

von Volker Baer

Als im Herbst 1999 die Bevölkerung der DDR auf die Straße ging, da gelang es ihr zum ersten Male, Dokumentaristen im ursprünglichen Sinne des Wortes zu sein. Dokumentarfilmregisseure der DEFA gingen auf die Straße und hielten die Menschen, die Polizisten, die Soldaten der NVA im Bilde fest, vermittelten die Atmosphäre in jenen Oktober- und Novembertagen, gaben einen ungeschminkten Eindruck von der Wirklichkeit. "Eigentlich ist es das erste Mal in der Geschichte des DEFA-Dokfilms. Am 17. Juni 1953, bei der Kollektivierung der Landwirtschaft, am 13 August 1961, beim Einmarsch in die CSSR 1969 - bei keinem dieser V/endepunkte in der DDR-Geschichte waren DEFA-Dokumentaristen mit ihren eigenen Intentionen dabei", stellt die in Berlin lebende Publizistin Heidemarie Hecht in einem kritschen Rückblick auf den DEFA-Dokumentarfilm fest. Dies ist eine keineswegs ruhmreiche Bilanz nach 46 Jahren Dokumentarfilm in der DDR.

Insgesamt sind zwischen 1946 und 1992, also bis zum Ende der ostdeutschen Produktionsgesellschaft, an die 9 000 Dokumentar-und populärwissenschaftliche Filme entstanden. Diese hohe Zahl ist dadurch zu erklären, daß es neben der Dokumentär- und Kurzfilmproduktion und der Wochenschau "Der Augenzeuge" (1946-1990) noch eine endlose Reihe von Periodika gab, Monatsschauen beispielsweise für Junge Pioniere, Sport, Kultur, Armee, Landwirtschaft, Wissenschaft, Technik sowie satirische Kurzspielfilmreihen wie das "Stacheltier". Einen Überblick zu gewinnen, ist für den Außenstehenden wohl kaum möglich, wie wohl auch die Bevölkerung der DDR keineswegs das gesamte Angebot hat einschätzen können. Oftmals war die eigene Produktion im Kino so unbeliebt, daß die Zuschauer entweder später in die Vorstellungen gingen oder das Lichtspielhaus zeitweise verließen. In bestimmte Filme allerdings wurden sie in Formationen, seien es Schulen, Betriebsgruppen oder andere Einheiten, delegiert; so bekam der Film zwar kein aufgeschlossenes Publikum, wohl aber hohe Besucherzahlen.

Filme von großer Ehrlichkeit

Im westlichen Deutschland war der DEFA-Dokumentarfilm kaum präsent. Allenfalls begegnete ihm ein Fachpublikum auf den Festivals von Mannheim und Oberhausen sowie in späteren Jahren auf dem Forum der Berliner Filmfestspiele. Gewiß, manche Namen waren auch im Westen bekannt, ein Gesamtüberblick aber kam nie zustande, was vor allem daran gelegen haben mag, daß vor allem in den Zeiten des Kalten Krieges Arbeiten etwa von Andrew Thorndike sowie aus dem Studio von Gerhard Scheumann und Walter Heynowski mit allzu grellen Tönen die Verunglimpfung des Gegners anstrebten. Doch der DEFA-Dokumentarfilm besteht keineswegs nur aus propagandistischen Stücken, es gab auch Filme von großer Ehrlichkeit. Aber auch sie erreichten, zumindest im Westen, nur ein kleines Publikum. Inzwischen nämlich war ganz allgemein der Kurz-und Dokumentarfilm in die Krise geraten, war weithin aus den Kinoprogrammen herausgenommen worden, war zum Fernsehen abgewandert.

Letztlich wurde der Dokumentarfilm der DEFA vom Westen erst 1999 wahrgenommen, als jene Aufnahmen von den Demonstrationen in die Kinos und Fernsehprogramme gelangten, die man als ehrlich empfand. Aber das war eigentlich schon das Ende, das sich alsbald deutlich abzeichnete. Waren 1999 insgesamt 900 Mitarbeiter in den DEFA-Dokumentarfilmstudios in Berlin und Potsdam-Babelsberg beschäftigt, zählte man 1990, als die DDR an ihrem Ende war, nur noch 350 Beschäftigte, und im Sommer 1995 waren es noch ganze 21. Nach Meinung von Kennern waren zu wenig Konzepte vorhanden, zu viele Eigeninteressen am Werk. Dokumentaristen hätten zu wenig Kraft und Zeit in eine gemeinsame Zukunft investiert. Es gab zwar Modelle für ein genossenschaftliches oder ein nationales Institut, was übrig geblieben ist davon war Ressentiment gegen die Treuhand, die die Berliner Immobilie verkaufte und das Babelsberger Studio zunächst in eine GmbH umwandelte. Ein Verkauf mißlang; man mußte das Atelier zurückerwerben. Eine Reflexion der Vergangenheit, eine Aufarbeitung der Probleme, des Umgehens von Tabu-Themen wie auch des Arbeitens mit Andeutungen ist bis heute unterblieben. Geblieben ist die Erinnerung an Repressionen, aber auch an eine nicht geringe Zahl achtbarer Filme, die auch heute noch zum Verständnis des Lebens in der DDR und der Mentalität der Menschen beitragen können.

Ein Bild der Bedingungen

Hierüber, wie auch über die staatlichen Einengungen, selbst auferlegten Einschränkungen und skrupellosen Anbiederungen an das Regime gibt ein umfangreicher Band Auskunft. Hier wird die Geschichte des Dokumentarfilms in der DDR (nach einem ähnlichen Band über den DEFA-Spielfilm, vgl. fd 9/1994, S. 36) ausführlich dargelegt - von den Anfängen unmittelbar nach Kriegsende bis zum Ende der DDR. Sechs Autoren geben darüber Auskunft. Man ist bei der Lektüre zunächst geneigt, den Text als eine Aneinanderreihung von Filmtiteln und Inhaltsangaben zu nehmen, doch mehr und mehr eröffnet sich durch die Methode der Darstellung ein instruktives Bild der Bedingungen, unter denen der Dokumentarfilm in der DDR entstanden ist. Es waren, zumal in den Anfangsjahren, ideologisch aufgeladene Arbeiten, die sich oftmals auch inszenierter Szenen bedienten, Filme voll verkrampftem Optimismus. Es war das Aufbaupathos jener Zeit, auch das politische Reglement, die Wort und Bild prägten. Die Zielsetzung stand von Anfang an klar fest. Und der Auftraggeber war die Partei, also die SED. "Dokumentarfilm hatte Führer, Lehrer, Propagandist zu sein und das Bewußtsein, also die jeweils opportune Motiv- und Bewußtseinslage, in die Massen hineinzutragen", wie es Günter Jordan in seinem Essay formuliert. So wurde 1949 der Begriff vom "politischen Dokumentarfilm" geprägt. Viele der Arbeiten entstanden am Schneidetisch. Mitunter wurde mit falschen Tondokumenten gearbeitet oder der Originalton einfach abgeschaltet, mitunter wurden ohne Angabe eines Zitats aus ausländischen Filmen Aufnahmen entnommen. Viele Filmemacher verstanden sich als Parteiarbeiter.

So stand der Dokumentarfilm lange Jahre im Schatten anderer osteuropäischer Länder. Arbeiten beispielsweise aus Polen, der CSSR und Ungarn ließen im Westen aufhorchen, weil sie ein ungeschminktes Bild der Realität vermittelten. Produktionen aus diesen Ländern, am Ende gar aus der UdSSR, wurden sowohl den Studenten der Babelsberger Hochschule als auch den Besuchern des Leipziger Dokumentarfilmfestivals vorenthalten, zwei Institutionen, über deren Entwicklung Claus Löser und Christiane Mückenberger anschaulich informieren. Die Ausbildung an der Filmhochschule war spezialisiert, der Kurzfilm kein Sprungbrett zum Spielfilm. Das Spektrum der Themen war sehr begrenzt. Die meisten Arbeiten gelten als harmlos. Und doch blieb das Babelsberger Institut nicht ohne Wirkung.

Bekenntnis zur Wirklichkeit

Nach langen Jahren der Stagnation betrat eine neue Generation die Szene, zeigte in der Wahl der Themen Mut, gewann in der Wahl der Form eigenen Ausdruck - und gewann nicht zuletzt Vertrauen in der Bevölkerung sowie Ansehen auf dem internationalen Podium. Sie betrachtete die Menschen ungeschminkt, zeigte deren Arbeitsorte ungeschönt, legte gleichsam ein Bekenntnis zur Wirklichkeit ab, sie entdeckte die persönliche Haltung, die individuellen Ansprüche. Mit einem Male kamen verdrängte Probleme zu ihrem Recht: alte Menschen wurden gezeigt, alleinlebende Frauen und Behinderte porträtiert, Ehe, Selbstmord, Alkoholismus waren Themen. Zuletzt fand auch ein latenter Nazismus unter der Jugend der DDR Beachtung. Und die Filmemacher gingen mit Vorsicht und Behutsamkeit, mit Verständnis für den Menschen, mit: Achtung und Geduld ans Werk. Arbeiten etwa von Winfried Junge und Volker Koepp, von Gitta Nickel und Helke Misselwitz stehen für diese Periode des DEFA-Dokumentarfilms. Jürgen Böttcher, der sich nach dem Verbot seines ersten Spielfilms "Jahrgang '45" (1965-66) ganz dem Dokumentarfilm und im Alter mittlerweile wieder der Malerei verschrieben hat, gehört zu jenen, die ein ehrliches Bild der DDR vermittelten. Ihre instruktiven Produktionen sind ein wesentlicher Bestandteil der DEFA- (wie letztlich auch der deutschen) Geschichte. Nicht minder interessant sind allerdings auch jene Inszenierungen, die mit Diffamierungen, mit Geschichtsklitterungen und Fälschungen gearbeitet haben. Sie geben sowohl Auskunft über die Mentalität einer Diktatur als auch über die Gefahren des Dokumentarischen.

Der Band, der auch noch über die Wochenschau und den populärwissenschaftlichen Film der DEFA informiert, wurde mit einer Ausnahme von Publizisten, Wissenschaftlern und Filmemachern aus der DDR erarbeitet, was ihm durchweg eine unmittelbare Nähe zum Thema gibt, ihm mitunter allerdings auch eine gewisse Distanz verwehrt. Er enthält jedenfalls eine Fülle von Material. Gerne hätte man noch einiges über die Produktionsbedingungen, die staatliche Finanzierung oder auch über die jährlichen Produktionszahlen erfahren. Wesentlich das von Renate Biehl erarbeitete Register der Regisseurinnen und Regisseure der DEFA, das in filmobiografischen Notizen 190 Namen enthält, mithin über alle wesentlichen Filmemacher informiert, wobei - wie schon beim DEFA-Spielfilm - wiederum auffällt, wie unterrepräsentiert die Frauen in der ostdeutschen Filmproduktion waren: nur etwa zehn Prozent der angeführten Namen sind Frauen. Auch über dieses Mißverhältnis hätte man gerne etwas erfahren (mehr jedenfalls als nur die knappe Bemerkung, daß es an der Filmhochschule für Frauen oft schwer gewesen sei, ihr Thema, ihre Sprache zu finden). Das Gegenbild: In vielen Dokumentarfilmen (von Männern!) standen - ähnlich wie bei Spielfilmen der DEFA - Frauen im Mittelpunkt. Da waren die Männer dann zu kurz gekommen. Was mag der Grund für diese gegenläufige Entwicklung gewesen sein? Weiterführende Untersuchungen mögen über vieles noch Auskunft geben, nachdem zunächst einmal ein erster großer Überblick vorliegt.

Volker Baer (filmdienst 14/1996)

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