Filmstill zu "Lotte in Weimar"

Der Geist und die Indianer.

Ein neuer Film von Rainer Simon

von Ralf Schenk

Als Rainer Simon 1988 für die DEFA seinen Spielfilm „Die Besteigung des Chimborazo“ über Alexander von Humboldt inszenierte, war er das erste Mal nach Ecuador gereist. Seither ist er immer wieder in das lateinamerikanische Land zurückgekehrt, sei es, um Workshops mit jungen Filmemachern zu veranstalten, sei es, um selbst zu drehen. So entstand die Dokumentation „Die Farben von Tigua“ (1994), das Porträt naiver indianischer Maler, deren Bilder Simon später in einer Verkaufsausstellung des Potsdamer Filmmuseums auch hierzulande bekannt machte. 1998 besuchte er ein Dorf der Záparo-Indianer und berichtete in „Mit Fischen und Vögeln reden“ über die Bedrohung indianischer Lebensräume. (Inzwischen ist die Kultur der Záparos von der Unesco ins Weltkulturerbe aufgenommen worden.) Als drittes Werk der Ecuador-Reihe stellte der Regisseur nun den Film „Der Ruf des Fayu Ujmu“ vor; die Doppel-Premiere fand im Berliner Filmkunsthaus Babylon und im Filmmuseum Potsdam statt.

„Der Ruf des Fayu Ujmu“ ist Resultat einer Videowerkstatt, die Simon und sein Kameramann Frank Sputh in der Urwaldgemeinde Loma Linda am Rio Cayapas durchführten. Gemeinsam mit den dort ansässigen Chachi-Indianern wählten sie eine ihrer Legenden zur Adaption aus: die Geschichte eines Indianerjungen, der in die Gewalt eines bösen Geistes gerät. Jener „Fayu Ujmu“ (dargestellt von dem Schauspieler Christian Kuchenbuch) hackt seinen Opfern mit einem gewaltigen Schnabel den Schädel auf und saugt ihnen das Gehirn aus. Um den Bann zu brechen, muss der Vater des Jungen den Geist fangen und unschädlich machen. In diese kleine Fabel bringt Simon atmosphärische Motive vom Alltag der Chachis ein: ein Wechselspiel von Legende und Gegenwart, Dokumentarischem und Inszeniertem. Zunächst zeigt der Film Kinder, die mit der Kamera „spielen“, sich in ihrer Linse spiegeln, dem Visier des Fotografen lachend zu entkommen versuchen. Zu sehen sind Frauen beim Wäschewaschen am Fluss und Männer beim Schlagen eines Baumes, aus dem ein Kanu entsteht. Als der Vater sein bewusstloses Kind auf dem Rücken durchs Dorf trägt, kommen Mädchen und Jungen ins Bild, die in Schuluniform Gymnastik treiben. Der Weg des Mannes führt über den Dorffriedhof mit weißen Kreuzen zu einer Asphaltstraße, auf der ein Lastwagen riesige Stämme transportiert, und schließlich in eine abgeholzte, todtraurige, fast futuristisch anmutende Urwaldlandschaft. Die Zerstörung des Natürlichen durch das Eindringen der „Zivilisation“ manifestiert sich erneut, als sich der Geist, vom Vater in ein Geflecht aus Blättern gefesselt, plötzlich in einen weißen Touristen verwandelt, der rote Limonade und blaue Luftballons an die Kinder des Dorfes verteilt und mit einem Rekorder auf der Schulter tanzt. Die Legende vom Aussaugen der Gehirne erfährt so eine zeitgenössische Interpretation.

Über die Dreharbeiten sagt Rainer Simon, das Projekt sei für ihn „ein nächster Schritt“ gewesen, „nicht Filme über indigene Völker, sondern mit ihnen zu machen“. Die Resonanz einer solchen Arbeit in Lateinamerika erfuhr er vor einiger Zeit während einer Retrospektive seines Oeuvres in mehreren Staaten des Kontinents: „Das vorwiegend weiße Publikum weiß über das Leben der Indianer, die in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft zu Hause sind, genau so wenig wie wir. Es ist für sie spektakulär, wenn ausgerechnet ein Europäer im Urwald dreht. Abgesehen davon werden dann auch Fragen der Medien debattiert: Warum werden solche Filme nicht bei uns gemacht? Warum sind sie nicht in unserem Fernsehen zu sehen? Die interessanten indigenen Filme, die vor allem in Mexiko und Bolivien auf Video gedreht werden, laufen nur in kleinen Zirkeln. Man fragte mich, was man tun könne, um dem Unterhaltungsterror etwas entgegen zu setzen, wie man die eigene Kultur bewahren könne. Selbst im kolumbianischen Medellin, wo die Veranstaltung im US-amerikanischen Kulturzentrum stattfand, weil das Goethe-Institut nicht mehr besteht, wurde offen darüber diskutiert, dass eine unheimliche Verarmung der Welt eintritt, wenn die US-Kultur alles beherrscht.“

„Der Ruf des Fayu Ujmu“, mit dem Simon zur erzählerischen Einfachheit seiner Anfänge zurückgefunden und die Fabel von allem Ballast befreit hat, entstand als private Produktion. Die Endfertigung erfolgte mit Unterstützung der DEFA-Stiftung. Jetzt suchen der Regisseur und sein Kameramann nach einem Verleih oder einer Fernsehanstalt, die sich des knapp dreiviertelstündigen Films – eventuell in Verbindung mit den früheren Dokumentationen – annimmt. Es dürfte fast als sicher gelten, dass der Erlös wieder in ein Lateinamerika-Projekt einfließt.

Ralf Schenk (filmdienst 15/2003)

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