Filmstill zu "Lotte in Weimar"

Im Jahr ‘49.

Die „dunklen“ Filme von Wolfgang Staudte

von Ralf Schenk

Der Motor dreht sich. Ewig läuft die Walze im Kreis. Über den Helden aus "Rotation" sagt Wolfgang Staudte: "Im Grunde war ich jener Typus Deutscher, wie ich ihn in meinem Film im Maschinenmeister Behnke gezeigt habe." Der Mitläufer: Für ein bißchen gutes Leben klebt irgendwann das Parteiabzeichen am Kragen. Der Wegseher: Als die jüdischen Nachbarn abgeholt werden, schließt er das Fenster. Der Gedankenlose: Als der Schwager, ein Widerständler, ins Ausland fliehen muß, freut sich Behnke, daß er sich dort doch erholen könne. Die vermeintlich unpolitische Sicht auf die Dinge, das Heraushalten aus den mit eigenen Augen und Ohren wahrgenommenen Untaten macht aus Menschen Werkzeuge. Behnke, der brave Kleinbürger, wird Handlanger der Verbrecher. Was ist er selbst? Opfer, Täter, oder beides?

"Rotation", gedreht 1948, kommt im September 1949 in die Kinos der Sowjetischen Besatzungszone. Zuvor mußte Staudte auf Verlangen der DEFA-Direktion seinen ursprünglichen Schluß ändern. Ein bekenntnishafter Nachkriegsdialog zwischen Behnke und seinem Sohn, dem noch vor kurzem arg fanatischen Hitlerjungen, der sogar den Vater an die Gestapo verriet, entfällt. Der Satz des Vaters, daß der Sohn nie wieder eine Uniform tragen solle, wird eliminiert; im deutschen Osten ist man gerade dabei, über die Gründung einer kasernierten Polizei nachzudenken und kann solche pazifistischen Sentenzen nicht gebrauchen. Staudte läßt sich, nach mehrmonatiger Funkstille zwischen ihm und der DEFA, dazu überreden, den beanstandeten Text zu streichen: Nun sieht man nur noch, wie der Junge die Soldatenkluft ablegt, um wenig später mit einer Freundin in die lichte Zukunft zu wandeln (mit entsprechend optimistischem Dialog).

Dieses rosige Finale klebt wie ein Fremdkörper am dem Psychogramm eines deutschen Kleinbürgers. Die Symbolik des Titels "Rotation", die Verwendung zahlreicher Gittermotive, in denen sich die Figuren bewegen, die Bitternis des Familiendramas, in dem der minderjährige Sohn zum Judas wird spricht dagegen von anderen Ahnungen Staudtes: Wäre es nicht auch denkbar, daß der Mensch, die Menschheit nicht zu bessern wäre?

Mann ohne Ilusionen

Staudte ist mit vielen Synonymen belegt worden: "Grandioser Satiriker", "ewiger Weltverbesserer", "Moralist und Aufklärer". Das alles trifft zu, gewiß. Gerade aber das Jahr 1949, in dem die beiden deutschen Staaten gegründet werden und der Kalte Krieg seinem ersten Höhepunkt zustrebt, läßt den Regisseur auch in einem anderen Licht erscheinen: als Mann ohne Illusionen, als Grübler und Pessimist. Nach "Rotation" dreht er einen Film und schreibt einen anderen, die beide zu den "dunkelsten" Werken seines Oeuvres geraten. Es sind radikale Absagen an jene - sehr unterschiedlichen - Wege, die soeben von den Kinematographien in West-und Ostdeutschland beschritten werden. Keine Lustspiele in luftleerem Raum oder Heimatschnulzen; und auch keine politischen Pamphlete, die für den Aufbau einer besseren Welt werben wollen. Stattdessen: ein Universum dunkler Charaktere ein Netz aus Schuld und Sühne, Verzweiflung und Selbsttäuschung. Menschen, die ins Verbrechen taumeln, unaufhaltsam, wie von einem sich ewig drehenden Motor getrieben. Rotation.

"Schicksal aus zweiter Hand", uraufgeführt im Oktober 1949, beginnt nicht von ungefähr mit der Totale eines Rummelplatzes und einem Karussell. Der Mann, der sich hinter den Kulissen einer schäbigen Bühne für seinen Auftritt zurechtmacht, trägt eine tiefe Narbe auf der Stirn, ein Kainsmal, und er ist betrunken. Wenn er vors Publikum stolpert, das er mit seinen Taschenspielertricks verstören will, setzt er sich eine schwarze Maske vor die Augen: zugleich Reliquie der Gaukelei und ein Mittel, um eigene Seelenregungen verbergen zu können.

Von falschen Propheten

Ernst Wilhelm Borchert spielt diesen Michael Scholz, derselbe Darsteller, der in Staudtes "Die Mörder sind unter uns" den Kriegsheimkehrer Dr. Mertens verkörpert hatte. Zwei Seelenverwandte: aus der Bahn geworfene labile Charaktere. Hier wie da mit starrem Blick und verschüttetem Lachen, ins Pathologische gesteigert. "Schicksal aus zweiter Hand" mußte von Staudte auf Geheiß der Produzenten am Ende des 19. Jahrhunderts angesiedelt werden, obwohl er thematisch ein sehr gegenwärtiger Film war. Das Porträt eines Menschen, der für Irrationales und Mystisches anfällig ist und darüber alles einbüßt. Vor Jahren war Michael Scholz von einem Hellseher eingeredet worden, er werde seine Frau (Marianne Hoppe) verlieren. Eine Weissagung, die ihn unsicher und mißtrauisch macht. Staudte flicht das Motiv des Sozialneids ein: Scholl kommt von "unten", er ist ein kleiner Buchhalter, in den sich eine Frau von "oben" verliebte. Deren Ansprüchen glaubt der Mann nun nicht mehr gerecht zu werden. Er spielt, spekuliert, verschuldet sich, findet Trost im Alkohol. Jedes Lächeln der Frau, die ihn noch immer liebt, empfindet er als Lüge; wenn sie aus dem Haus geht, wittert er Betrug; bis er sie schließlich in einem Anfall von Raserei erwürgt. Nach Jahren im Gefängnis verdingt er sich selbst als Prophet, auf dem Rummelplatz... Ein Opfer des Wahrsagers? Oder des eigenen Minderwertigkeitsgefühls? Das Individuum, so postuliert Staudte, ist von Natur aus schwach und blind - so blind, daß es anfällig wird für Scharlatane jeglicher Couleur. Die falschen Propheten sind unter uns, und deren Opfer können schnell selbst zu Mördern werden.

Schuld und Sühne - ein Motiv, das auch dem Projekt "Strandgut" zugrunde liegt, ebenfalls aus dem Jahr 1949. Wie "Schicksal aus zweiter Hand" ein Gleichnis, diesmal im Exterieur einer einsamen nordeuropäischen Insel. Bezeichnend für die Situation des westdeutschen Kinos war, daß "Strandgut" von der Hamburger Produktionsfirma Real-Film auf Eis gelegt wurde, nachdem sich für sie die Chance ergeben hatte, zum ersten Mal nach dem Krieg wieder einen Unterhaltungsfilm mit Zarah Leander drehen zu können; dafür brauchte man jetzt Geld und Kapazitäten. Erst 1954 gelang es dem Regisseur, den Stoff bei der DEFA unterzubringen, unter dem Titel "Leuchtfeuer". In der DDR stieß das Werk dann auf weitgehendes Unverständnis: "Staudte führt den Zuschauer", so schrieb ein einflußreicher Rezensent noch Jahre später, "nicht zum Bewußtsein des Klassenkampfes... Das entsprach offensichtlich Staudtes eigenen, durch pazifistische Auffassungen getrübten weltanschaulichen und politischen Vorstellungen." Im Westen hingegen nahm man "Leuchtfeuer", obwohl als Co-Produktion mit Schweden ausgewiesen, gar nicht erst wahr.

Die Natur führt Krieg

Nach dem farbenprächtigen, opulent ausgestatteten "Kleinen Muck" nun das existentialistische Drama in karger Szenerie, die Rückkehr zum scharf konturierten Schwarz-Weiß. Staudte führt Menschen vor, die den Naturgewalten ausgeliefert sind; in einer Totale aufgenommen, wirken sie, auf dem Felsenriff, verloren und hilflos. Wind, Regen und Schnee bestimmen ihr Schicksal; das Schiff mit Lebensmitteln vom Festland legt längst nicht mehr an; die Natur führt Krieg gegen sie.

Staudte flicht das suggestive Bild eines Begräbnisses ein: die Trauergemeinde winzig im Hintergrund, im Vordergrund ein Holzkreuz, schwer und bedrohlich. "Die Toten halten sich in diesem Winter besser als die Lebenden", sagt man und tauscht beim Kaufmann Holz gegen Mehl: Man verzichtet auf Wärme, um den Hunger zu stillen. Frauen klettern auf den Klippen, begeben sich in tödliche Gefahr, um eine angeschwemmte Kiste zu bergen; doch als sie deren Deckel öffnen, finden sie Weihnachtskugeln, die in ihren Händen zerplatzen: sinnloser Tand. So macht die Not die Menschen trübsinnig und wirr, und der Schlaf der Vernunft gebiert auch hier Ungeheuer.

In die Gedanken kehrt ein Ereignis zurück, das vor 20 Jahren geschah: Damals fielen die Lichter des Leuchtturms aus, und ein Schiff mit Lebensmitteln strandete in den Felsen. Stürme und Klippen, beschwört ein alter, einbeiniger Seemann, seien vom lieben Gott gemacht, aber er hätte noch nie gehört, daß Gott einen Leuchtturm erschaffen habe... Unter dem Druck der Hungernden, die ihn zunächst schneiden, dann beschimpfen und bedrohen, entschließt sich der Leuchtturmwärter nach langem innerem Kampf tatsächlich, die Feuer zu löschen. Staudte und sein Co-Autor Werner Jörg Lüddecke treiben die Geschichte zum erbarmungslosen Finale: Zunächst läuft kein Schiff mit Lebensmitteln auf die Klippen, sondern ein Kindertransport, der nur mit Mühe gerettet werden kann. Dann zeigen die Schlußszenen, daß das Verbrechen auf die Inselbewohner zurückgeschlagen ist: Ein Transport, den Seeleute vom Festland für sie zusammenstellten, strandete in derselben Nacht; die Besatzungsmitglieder, einige als Emissäre ausgeschickte Leute von der Insel selbst, sind tot. Ihre Ladung - vom Wasser überspült.

Wolfgang Staudtes Zweifel an der Lernfähigkeit des Menschen, an der Bereitschaft zu Einsicht und Buße, müssen enorm gewesen sein. Später, in Arbeiten wie "Kirmes" (1960) oder "Herrenpartie" (1963), reflektierte er über dieses Thema noch einmal ganz konkret im Zusammenhang mit Kriegsschuld und der Unwilligkeit und -fähigkeit der Nachkriegsgesellschaft, zu bekennen und zu trauern. Auch die Adaption von Brechts "Mutter Courage und ihre Kinder" (1955), ein bei der DEFA wegen Meinungsverschiedenheiten mit dem Autor abgebrochenes Projekt, hätte dem entsprochen: mit einer Marketenderin als Heldin, die im Krieg ihre Söhne verliert, ihn aber trotzdem nicht zu verdammen bereit ist.

"Schicksal aus zweiter Hand" und "Leuchtfeuer", beide bisher oft als marginale Filme in Staudtes Werk apostrophiert, haben es nicht verdient, vergessen zu sein. Dokumentieren sie doch, abgesehen von ihrer weit über dem damaligen deutschen Kino-Durchschnitt stehenden künstlerischen Qualität, auch die Sicht eines sensiblen Chronisten auf seine Zeit, sein Volk, die moralische Verfassung der Menschheit überhaupt.

Ralf Schenk (filmdienst 21/1996)

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