Filmstill zu "Lotte in Weimar"

Ein Basar in Babelsberg.

50 Jahre „Die Geschichte vom kleinen Muck“

von Ralf Schenk

Als sich am 23. Dezember 1953 im Ost-Berliner Kino Babylon der Vorhang für „Die Geschichte vom kleinen Muck“ hob, ahnte noch keiner der Gäste, dass er der Premiere des erfolgreichsten deutschen Märchenfilms aller Zeiten beiwohnen würde. Allein in der DDR ließen sich in den folgenden Jahrzehnten rund zwölf Mio. Zuschauer anlocken, und schnell avancierte das poetische, farbenprächtige Abenteuer aus 1001 Nacht auch zum Exportschlager. Wolfgang Staudtes Film trug 1954/55 dazu bei, die zeitweilige, politisch bedingte Einfuhrsperre von DEFA-Produktionen in die Bundesrepublik Deutschland zu durchbrechen. Selbst in fernen Ländern erlag man der in Babelsberg kreierten orientalischen Zauberwelt. So ging die Legende, dass der nordvietnamesische Präsident Ho Chi Minh den „Kleinen Muck“ zu seinem Lieblingsfilm erkor und ihn regelmäßig seinen Besuchern vorgeführt haben soll.

Ersatz für „Mutter Courage“

Dabei war die Arbeit für Staudte zunächst nur eine Art Verlegenheitslösung. Eigentlich hatte er nach dem Erfolg seines Films „Der Untertan“ (1951) mit den Vorbereitungen zu einer Adaption von Brechts Bühnenstück „Mutter Courage und ihre Kinder“ begonnen; doch weil es zu Meinungsverschiedenheiten mit dem Dichter kam, wurde der Plan erst einmal ad acta gelegt. Die DEFA bot Staudte als Ersatz das Hauffsche Märchen an – zusammen mit der verlockenden Aussicht, das für „Mutter Courage“ vorgesehene Budget auch dafür ausschöpfen zu dürfen. „Ich war“, sagte Staudte später, „zuerst nicht sehr glücklich damit, denn ich wollte doch so richtige politische Filme machen, und dann kam so was. Doch ich kriegte Freude daran.“ Zwar warnte er auf einer Sitzung des Künstlerischen Rates der DEFA im Dezember 1952: „Wer mir einen solchen Auftrag gibt, muss wissen, dass ich ein Entzauberer bin“, fügte zugleich aber erklärend hinzu: „Wir leiden immer noch an den Folgen einer falschen Pädagogik. Wenn wir heute Märchen gestalten, dürfen wir nicht die Poesie zerstören, aber die Dämonie, das Brutale müssen wir herausnehmen.“ So ging er ans Werk.

Ähnlich wie Paul Verhoeven, der 1949/50 für die DEFA das Hauff- Märchen „Das kalte Herz“ verfilmt hatte, standen auch Staudte rund 140 Drehtage und die besten Fachleute des Studios zur Verfügung. Neben Robert Baberske als Kameramann wurde der Trickspezialist Ernst Kunstmann verpflichtet, der nun für komische Zeitraffer- Aufnahmen oder schnell wachsende Eselsohren zuständig war. Szenenbildner Erich Zander, der schon zu Stummfilmzeiten große Historienstoffe ausgestattet hatte („Napoleon auf St. Helena“), baute dem Regisseur eine orientalische Stadt in den märkischen Sand – einschließlich Sultanspalast, Sandwüste, Basaren, Minaretten und Moscheen. Die Kostüme stammten von Walter Schulze-Mittendorf, auch er ein „alter Hase“ aus Fritz Langs „Metropolis“-Zeiten. Ein Zirkus stellte Elefanten, Affen und Kamele zur Verfügung. Dass der DEFA als Staatsfirma aber nicht alle mit dem Film verbundenen Forderungen leicht fielen, belegt eine kleine Aktennotiz: Als der Requisiteur für eine Dekoration Orangen, Grapefruits und Erdnüsse benötigte, war dafür ein entsprechender Antrag ans Staatliche Komitee für Filmwesen nötig. Die notwendigen Südfrüchte gab es seinerzeit nur im Westen und kosteten 13,35 harte DM. Zander, Mittendorf oder Staudte gingen solch bürokratischem Aufwand mitunter auch aus dem Wege, indem sie selbst entsprechende Dinge organisierten. Denn sie arbeiteten zwar im Osten, wohnten aber in West- Berlin und erhielten einen Teil ihres Gehalts in Devisen.

Vor der Kamera

Auch sonst lief während der Vorbereitung und der Produktion nicht alles glatt. Beispielsweise suchte Staudte verzweifelt nach einem Hauptdarsteller, der den kleinwüchsigen, buckligen Muck verkörpern konnte. Weil Staudte und Co-Autor Peter Podehl diese Rolle für ein Kind zu kompliziert fanden, probten sie zunächst mit einigen jungen, unbekannten Schauspielerinnen, unter anderem mit der Lebensgefährtin Podehls. Als diese während der Probeaufnahmen ihrem Sohn Thomas den Turban aufsetzte, wies ein anderer Regieassistent, Siegfried Hartmann, den Regisseur auf den Jungen hin. Endlich war der „Kleine Muck“ gefunden: freundlich und naiv, unschuldig und agil. Viel später erinnerte sich Thomas Schmidt, der heute als Doktor der Sozialmedizin in Hannover lebt: „Abends lernte Mutter mit mir die Texte, und am nächsten Tag vor der Kamera – das war einfach ein Spiel für mich. Deshalb wirkt es so leicht. Allerdings fand ich das Toben hinter den Kulissen mit anderen Kinderdarstellern viel interessanter. Und auch die Tatsache, dass ich einige Monate nicht zur Schule musste ...“ Noch heute werden Schmidt und die Darstellerin der Prinzessin Amarza, Silja Lesny, zu Vorführungen des „Kleinen Muck“ gebeten, dem sie gerne Folge leisten.

Die Tagesberichte der Produktion geben darüber Auskunft, dass die Dreharbeiten hin und wieder unterbrochen werden mussten. Mal stand der Kinderdarsteller 14 Tage lang wegen Krankheit nicht zur Verfügung, mal fehlte der blaue Himmel, den man fürs orientalische Ambiente à la „Der Dieb von Bagdad“ oder „Münchhausen“ nun einmal brauchte. Beinahe hätten auch die Geschehnisse des Arbeiteraufstandes am 17. Juni 1953 den Film behindert: Als Staudte jene Szene inszenierte, in der Muck und der Schnellläufer des Sultans um den Palastbrunnen rennen, drang von der Straße hinter den Studiomauern ständig Motorenlärm aufs DEFA-Gelände. Der zunehmend nervöse Regisseur fragte einen Aufnahmeleiter, wieso draußen so viele Traktoren fahren: „Schauen Sie doch mal nach, da müssen wir die Chaussee eben absperren lassen.“ Doch so einfach wäre das kaum gewesen – keine Traktoren, sondern sowjetische Panzer rollten Richtung Berlin.

Kompendium beißenden Spotts

Man kann, gerade auch vor diesem historisch-politischen Hintergrund, die „Geschichte des kleinen Muck“ als einen durchaus „erwachsenen“ Märchenfilm sehen, als ein Plädoyer für Frieden und Toleranz. Zum Beispiel erweiterten die Autoren Hauffs romantische Märchenvorlage um eine Szenenfolge, in der Muck einen drohenden Krieg mit dem Nachbarreich vermeiden hilft, eine bereits abgefasste Kriegserklärung, die er als Läufer überbringen soll, zerreißt und daraufhin vom Volk bejubelt wird. Zeigt sich der Film hier als ernsthaft und pathetisch, erweist er sich bei den Porträts des Sultans und seiner Höflinge als ein Kompendium beißenden Spotts. Staudte schreckte – wie bei „Der Untertan“ – nicht vor Karikaturen zurück: Er führt sie, getreu der Märchenvorlage, als hoffnungslos selbstherrlich, intrigant und dumm vor. Die zauberischen Gegenstände, nach denen die Höflinge gieren – jenes Stöckchen, das Gold und Silber aufspürt, und die Pantoffeln, die ihre Träger schneller als den Wind machen –, lässt Muck, anders als im Märchen, in der Wüste zurück: Statt sich ihrer zu bedienen, verdient er seinen Lebensunterhalt lieber auf ehrliche Weise, durch seiner Hände Arbeit. In der ebenfalls neu erfundenen Rahmenhandlung erzählt der alt gewordene Muck einer Gruppe von Kindern, die ihn wegen seines verwachsenen Körpers hänseln, in mehreren Rückblenden seine Geschichte. Nach und nach begreifen die Kinder seine Güte und Weisheit und tragen ihn schließlich wie einen Helden auf ihren Schultern durch die Stadt. War Muck bei Hauff zum reichen, die Menschheit verachtenden Einzelgänger geworden, nimmt sich im Film die Jugend seiner an. Auf diese Weise beschwor Staudte die schöne utopische Hoffnung auf eine Generation, die sich nicht von falschem Glanz blenden lässt, sondern ihre Vorbilder in einer gelebten Ehrlichkeit und Humanität zu entdecken beginnt.

Ralf Schenk (filmdienst 26/2003)

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