Filmstill zu "Lotte in Weimar"

Östliche Landschaften.

Der Filmessayist Eduard Schreiber

von Ralf Schenk

Im Jahr 1992 montiert der Regisseur Eduard Schreiber eine Kompilation aus Wochenschauszenen und Fernsehbildern: "Die Tribüne". Aufmärsche im Dritten Reich, Paraden in der DDR, Hitlers Reden, Breschnews versteinertes Gesicht, Honeckers Bruderküsse, kommentiert durch lakonische, mitunter sarkastische Zwischentitel. "Freut Euch des Lebens" oder "Wieder sammelt sich das Volk, die Leere auszufüllen". Das Oben und das Unten: Menschen zu Ornamenten gepreßt, mit Fackeln bewaffnet, verloren in der Masse, ob beim Reichsparteitag in Nürnberg oder beim Turn- und Sportfest in Leipzig. Ein monströses Panoptikum. Schreiber verfremdet das historische Material, verzichtet auf Töne oder verzerrt sie zur groteskgespenstischen Geräuschkulisse. Und er filtert aus oft gesehenen Szenen prägnante Details, die dann, in Zeitlupe oder durch einen besonderen Bildausschnitt hervorgehoben, auf die Leinwand projiziert werden. So lenkt er den Blick des Zuschauers auf die Leibwächter der Mächtigen oder die obligatorischen kleinen Mädchen, die den Herrschern Blumensträuße zu überreichen haben - immergleiches Symbol für scheinbare Güte, Vertrautheit und Geborgenheit.

Der Film endet freilich nicht mit solchen Gesten, sondern mit einer Hommage an zwei Unbekannte: In dem Material aus den 30er Jahren entdeckt Schreiber einen Mann, der sich der jubelnden Menge entgegen bewegt; später sieht er einen Jungen, der zwar in einer FDJ-Parade mitläuft, aber ohne, wie die anderen, zur Tribüne zu blicken und mit erhobenen Händen zu klatschen. Einsame Motive am Schluß des Films: "Ehrung" zweier Individualisten, die sich, aus welchem Grunde auch immer, wenigstens für einen Moment dem Zeitgeist versagten.

Die Sequenz offenbart Schreibers Credo gleichsam pur: Von Anfang an ging es ihm in seinen Filmen um "etwas anderes". Er fahndet nach Individualität in einem Jahrhundert, das auf Vermassung ausgerichtet ist. Er pocht geradezu auf das Individuum. Dabei stellen sich auch seine Arbeiten, wie die beiden unangepaßten Männer in der "Tribüne", immer wieder gegen den Strom - ob in der Auswahl der Helden oder in der Suche nach verschütteten Spuren der Geschichte. Schreibers Œuvre gehört zum spannendsten, was an Dokumentarfilm derzeit in Deutschland zu entdecken ist.

Kunst, Macht und Schicksal

Eduard Schreiber, 1939 in Obernitz/ Böhmen geboren, hatte in Leipzig Publizistik und Literatur studiert und war 1970 als Autor in das DEFA-Studio für Dokumentarfilme gekommen. Seit 1972 arbeitete er dort auch als Regisseur. Zu seinen frühen Filmen gehören Porträts über "Hermann Hesse" (1977) und Gotthold Ephraim Lessing ("Nun gut, wir wollen fechten", 1978). Schon hier verläßt er die Pfade der konventionellen, informationsträchtigen Biografie und versucht sich an essayistischen Formen. Im Lessing-Film zum Beispiel wird der Bogen ins 20. Jahrhundert und in die DDR geschlagen; Schreiber erinnert an die Bedeutung der "Nathan" - Aufführung 1945 in Berlin und hebt Lessings politische Ansichten durch Zitate prononciert ins Gegenwärtige. "Glaubst Du", läßt er zwei Schauspieler dialogisieren, "daß die Menschen für die Staaten erschaffen werden, oder die Staaten für die Menschen?" Sentenzen wie diese brachten dem Dichter im 17. Jahrhundert Schreibverbote ein. Und heute?, fragt der Kommentar und antwortet mit Heinrich Mann: "Wäre er da, er würde dieselben Kämpfe führen." Zwei Jahre nach der Ausbürgerung Biermanns ein durchaus gewagter Satz in einem DEFA-Film.

1979 dreht Schreiber "Das wechselvolle Leben des deutschen Malers und Glückssuchers Heinrich Vogeler". Die Geschichte eines proletarischen Träumers und seiner endlosen Suche nach Harmonie. Wieder arbeitet der Regisseur mit szenischen Mitteln: zu Beginn fährt die Kamera aus den Wipfeln eines Baumes herab, erfaßt einen an dessen Stamm gelehnten Akteur, der in sich hineinhorcht. Im Finale steht derselbe Darsteller auf dem Oberdeck eines Bootes, das sich in die Weite des Bildes entfernt. Um ihn herum junge Leute verschiedener Hautfarbe; dazu die Worte Vogelers, daß diejenigen, die die "Menschheit zur Ordnung, zum Neuaufbau treiben" und ein plastisches Bild von der Zukunft erschaffen könnten, aus der Masse heraustreten sollten. Vogeler, auch das verschweigt der Film nicht, war im sowjetischen Exil wegen seiner Komplexbilder als "unverständlich" gescholten worden und 1942 im Land seiner Hoffnung jämmerlich verhungert.

In "Wieland Förster - Dezember 1979" (1980), den Schreiber gemeinsam mit seinem langjährigen Co-Autor Rolf Richter realisiert, werden Gedanken laut, deren Veröffentlichung in der DDR durchaus Seltenheitswert besaß: Der Bildhauer, den die Kamera bei der Arbeit im Atelier und bei der Vorbereitung einer Werkschau beobachtet, bezeichnet seine Kunst als "die einzig wirkliche Form, mit dem Leben fertigzuwerden, Probleme, Ängste und Nöte zu bewältigen". Die Konflikte seien heftig und stark; er müsse aus sich herausreißen, was er gesehen und worunter er gelitten habe. Und er müsse sich selbst vertrauen, seinen ureigensten Empfindungen nachgeben, nicht der Beurteilung durch die Umwelt. Schreiber verwirklicht filmisch einen Traum Försters: Eine wirklich schöpferische Leistung sei, wenn ein Kunstwerk die Ruhe des Gewachsenen ausstrahle, sagt der Bildhauer, und die Kamera zeigt ein paar seiner Skulpturen in natürlicher Umgebung: eine nackte Badende in den Wellen des Meeres und in einer Graslandschaft, die Porträtstele "Pablo Neruda" auf einem belebten Berliner S-Bahnsteig, Mensch unter Menschen.

Stilistisches Neuland betritt Schreiber mit den beiden Künstleressays, die er in den 80er Jahren entwirft. Das Atmosphärische schiebt sich endgültig vor das Faktische, der Traum (oder Albtraum) vor die Realität. "Radnóti" (1984) skizziert nicht schlechthin nur die Biografie des in Deutschland fast unbekannten ungarischen Dichters; er kreist vielmehr um allgemeine, existentielle Themen: die Bedrohung der Kunst durch Gewalt, das Ausgeliefertsein des einzelnen an die Zeitläufte, die Illusion als Gefahr und Überlebenshilfe zugleich, die Verzweiflung angesichts einer in den Untergang taumelnden Welt. Radnóti: "Kann dein Wort heutzutage ein Echo noch finden unter Kanonengebrüll?" Schreiber macht das Gehetztsein des Dichters unmittelbar vor dem Tod - er starb im Spätherbst 1944 beim Marsch aus einem Gefangenenlager - schon am Beginn des Films durch subjektive Kameraeinstellungen transparent: mit einer aus der Froschperspektive aufgenommenen raschen Fahrt durch Alleen und Dörfer bis hin zu jenem Waldstück, in dem der Gepeinigte schließlich erschossen wurde. Das Essay, fast ohne Kommentar, blendet danach immer wieder in die scheinbare Idylle des Vorkrieges zurück. Aber zu den Fotos aus dem "heiteren, schönen, legeren" Budapest erklingt der verzerrte Donauwalzer. Die Töne der Musik und menschliche Stimmen hallen wie Echos aus einem versunkenen Universum. Einer Welt, in der auch Egon Erwin Kisch zu Hause war, dem Schreiber Ende der 60er Jahre seine Promotion gewidmet hatte - und 1985 das Kinoessay "Wissen Sie nicht, wo Herr Kisch ist?". Eine filmische "Jagd" nach dem umtriebigen Reporter, der in Gestalt eines meist von hinten aufgenommenen, scheinbar gesichtslosen Mannes durch die Häuserschluchten, Kneipen und Flure der Prager Altstadt eilt. Ein Werk, das die Grenzen zwischen Dokument und Fiktion fließend werden läßt, und ein fast surrealistisches Opus: atemlos, mit hallenden Schritten und der Totale einer Straßenkreuzung, an der eine Ampel seltsam irrlichtert. Alle Wege sind offen - und alle versperrt.

Alltag im Osten

Auch mit seinen Alltagsfilmen reihte sich Eduard Schreiber nie in die Phalanx jener DEFA-Regisseure ein, die Parteibeschlüsse mehr oder minder geschickt zu illustrieren versuchten. In "Erinnerungen an Häuser" (1980), Szenen aus einer Berliner Neubausiedlung, gemahnte nichts ans Aufbaupathos des Honeckerschen Wohnungsbauprogramms; die Studie wies sacht darauf hin, daß es für die Leute hier noch keine Wurzeln geben kann. Den melancholischen Grundton dieser Arbeit verstärkte Schreiber in "Ein Bauer und seine Frau" (1982): Ein Ehepaar in einer Harz-Gemeinde, er 60, ehemaliger LPG-Vorsitzender und Invalidenrentner, sie etwas jünger und Brigadierin in der Schweinezucht, reflektieren über ihr Leben. Auf dem Hof, seit 1760 Familienbesitz, war "immer Platz für alt und jung", doch davon zeugen nur noch historische Fotos. Jetzt sind die Alten übriggeblieben, die Tochter und die Enkel wohnen in der Stadt: ein sterbendes Gehöft - wie das ganze Dorf. Über den Feldern liegt Schnee, über den Menschen Müdigkeit. Und über den Bildern das Lied vom "König in Thule".

Zweimal wendet sich Schreiber in den 80er Jahren einem Tabuthema in der DDR zu: dem Alkoholismus. "Abhängig" (1983) zeigt, wie sich ein leitender Mitarbeiter der Rostocker Neptun-Werft um alkoholkranke Kollegen kümmert. Man müsse, so der Bootsbauer, die Leute wieder dazu bringen, daß sie miteinander reden, denn: "Jeder hat Ängste, Nöte, auch in unserer Gesellschaft. Jeder muß diese Ängste loswerden." Der Film mündet, anders wäre er damals wohl nicht zu machen gewesen, in ein versöhnliches Finale: Ein Trinker, der sich in einer (spannenden) Szene rigoros geweigert hatte, sich einem Psychologen vorzustellen, will sich nun doch der Behandlung unterziehen; ein anderer, der von seinem Kran verbannt worden war, bekommt die Erlaubnis, auf den Führerstand zurückzukehren. "Rückfällig" (1988), nach dem abendfüllenden Anti-Raketenwaffen-Film "The Time is now - Jetzt ist die Zeit" (1987) gedreht, wirkt dann herber, rigoroser. Zwischen Interviews mit Alkoholikern und Szenen aus Ausnüchterungszellen blendet Schreiber Aufnahmen aus einer Kaufhalle mit Regalen voller Fusel und Bilder aus einer Schnapsfabrik ein, etwa die rotierende Abfüllmaschine. Die Gesellschaft macht krank - und die Gesellschaft verdient an der Krankheit. Ein illusionsloses Fazit.

Erinnerungen ohne Nostalgie

"Ich war ein glücklicher Mensch" (1990) heißt Schreibers erster Film nach der "Wende": das Porträt eines 80jährigen Journalisten in der DDR, der trotz langer politischer Haft hinter Ulbrichtschen Gittern seiner Überzeugung treu bleib, die DDR sei der einzig gerechte deutsche Staat gewesen. Aus dem Zuchthaus heraus bestellte er allen Ernstes jeden neuen Stalin-Band; und wider besseren Wissens glaubte er selbst, schuldig zu sein an der Kollaboration mit dem "bürgerlichen Klassenfeind". So entfremdete er sich seiner Familie, die dem Land, in dem sie wohnte, zunehmend kritischer gegenüberstand. Als eine der beiden Töchter Anfang der 70er Jahre über Bulgarien in den Westen zu fliehen versuchte, schrieb er ihr ins Gefängnis: kühl, verständnislos. Nun liest er diesen alten Brief noch einmal, laut vor laufender Kamera, erschrickt, schweigt unendliche Sekunden lang, distanziert sich schließlich, den Tränen nah, von den eigenen Worten. Erschütterndster Moment eines Films, der als Plädoyer gegen die Selbstaufgabe und - wie "Kremlfrauen" (1995) über Witwen oder Töchter legendärer sowjetischer Revolutionäre - gegen das Verdrängen unbequemer, schmerzlicher Wahrheiten weit über einen singulären Schicksalsreport hinausreicht.

"Östliche Landschaft" (1991) spiegelt wortlos Schreibers Sorge vor einem forcierten Geschichtsentzug; er warnt davor, daß gelebtes Leben plötzlich nichts mehr wert sein soll. Eine Müllkippe als Metapher. Reliquien aus 40 Jahren DDR auf der Halde: Bücher einstiger stolzer Politpropheten neben Spielzeug und zärtlichen Liebesbriefen, darüber Schwärme von Raben. Ein russischer Soldat gräbt einen noch brauchbaren, leicht verbeulten Koffer aus dem Unrat, vielleicht, um letzte Habseligkeiten in die Ungewisse Zukunft zu transportieren. Zum Schluß, ebenso gespenstisch wie die dokumentaren Stilleben, eine inszenierte Szene: Ein junger Mann zieht sich nackt aus, läuft barfuß über Scherben und Modder, der Horizont ist dunkel. Und die Strommasten führen keine Drähte mehr. Wer kein Woher hat, hat kein Wohin.

Eine Stimmung, die auch von Schreibers jüngstem Film ausgeht. "Lange nach der Schlacht" (1995), drei Stunden lang, beobachtet den Abzug russischer Truppen von einem Übungsplatz in Brandenburg, die Wege von Offizieren, Soldaten und einigen deutschen "Nachbarn", deren materielle Existenz eng mit der Anwesenheit der Truppe verknüpft war. Der Film, zwischen 1991 und 1994 als Langzeitbeobachtung gedreht, zeigt, daß es kaum jemandem von ihnen besser geht. Manche Offizieren wurden, trotz Protest vor allem der resoluten Ehefrauen, in ökologisch verseuchte Gegenden Rußlands versetzt. Manche kehrten nach Deutschland zurück und halten sich mit Zigarettenschmuggel über Wasser. Ein Jagdflieger, dessen Familie in einer russischen Holzbaracke ohne Wasser haust, spricht aus, was viele denken: "Die Leute werden hier nur abgeladen und sich selbst überlassen. Man geht schändlich mit den Menschen um, wirft sie einfach über Bord." Und ein junger Kulturoffizier schlußfolgert, daß ihn das Land, das ihn in die DDR schickte, betrogen habe. "Es braucht mich nicht mehr."

"Lange nach der Schlacht", erstmals zu sehen auf dem Forum des Jungen Films während der diesjährigen "Berlinale", zeigt das Kippen vager Hoffnungen in Resignation. Ohne es verbal zu betonen, weist der Film damit zugleich auf das Konfliktpotential hin, das sich hinter der Mauer aus Enttäuschung und Verbitterung sammelt. Eine erregende soziale und soziologische Studie, die noch einmal die Tugenden der DEFA bündelt: Vertrautheit durch Nähe. Die Ruhe und Zärtlichkeit des Blicks, die Sensibilität für Landschaftsmotive, die auch Seelenzustände bedeuten können. Auf dem verlassenen Armeegelände liegen Stapel kaputter Autoreifen, Fässer und Tonnen von Unrat. Und in der Kaserne streicht Willi, der Maler aus Brandenburg, die Wände eines riesigen Saales: "Kein deutscher Soldat", sagt er, "wird hier mehr reingehen. Naja, vielleicht das Finanzamt..."

Ralf Schenk (filmdienst 3/1996)

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