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Gedächtnislücken. Egon Bahr und Peter Ensikat im Gespräch

Regie: Thomas Grimm, 379:51 Min., Farbe
Deutschland
2005

Film-/Videoformat
Digital Betacam
Sonstiger Titel
Gedächtnis-Lücken. Egon Bahr und Peter Ensikat im Gespräch

Kurzinhalt (Deutsch)

Austausch von Erfahrungsberichten und Erinnerungen über die letzten 6 Jahrzehnte zwischen dem Politiker Egon Bahr und dem Schriftsteller und Kabarettisten Peter Ensikat aus jeweils westdeutscher und ostdeutscher Perspektive; 4 Teile

1. Teil: Nationale Volksarmee NVA; Bundeswehr; Zensur von Theater und Kabarett; Große Koalition; Willy Brandt; Kurt Georg Kiesinger; Abrüstung bzw. Rüstungsreduktion; Ostpolitik; Propaganda im Film; Brandmarkung westlicher Einflüsse; '68er Studentenbewegung; Prager Frühling; Vietnamkrieg; Rudi Dutschke; Henry Kissinger; Moskauer Vertrag; Komitee für Staatssicherheit KGB; Berlin-Abkommen; Ronald Reagan; Deutsch-Sowjetische Freundschaft (DSF); Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG); "Brief der Deutschen Einheit"; Ablösung Walter Ulbrichts durch Erich Honecker 1971; Vier-plus-Zwei-Vertrag; Transitabkommen;

Filmausschnitte: "Reserveheld" (1965), "Geliebte weiße Maus" (1964), "Die Glatzkopfbande" (1963)

2. Teil: Beginn 2. Weltkrieg; Blitzkrieg; Konzentrationslager; Wehrmacht; Nachkriegszeit; Einmarsch der Roten Armee; Besatzung durch die 4 Siegermächte; Versorgungsnot; Zusammenschluss bzw. Zwangsvereinigung der KPD und SPD; Luftbrücke; Berlin-Blockade; Währungsreform; Atombombe; Korea-Krise; NATO; Gründung der BRD und DDR; Konrad Adenauer; Wiederbewaffnung; Grundgesetz; RIAS; Kalter Krieg; Westorientierung; West-Berlin; 17. Juni 1953; Tod Josef Stalins 1953; Walter Ulbricht; Mauerbau 1961; Teilung Berlins; Fluchtwelle; Ostpolitik; "Politik der kleinen Schritte"; Entspannungspolitik;

Filmausschnitte: "Der Fall Gleiwitz" (1961), "Nackt unter Wölfen" (1963), "Sonnensucher" (1958/1972), "Berlin-Ecke Schönhauser" (1957)

3. Teil: Kabarett in der DDR; Erich Honecker; Michael Kohl; Transitabkommen; 4-Mächte-Abkommen; Friedensnobelpreis für Willy Brandt; Grundlagenvertrag 1972; Misstrauensvotum 1972; Michail Sergejewitsch Gorbatschow; "Haus Europa"; Ende des Wettrüstens; Hans-Dietrich Genscher; Treffen zwischen Willy Brandt und Willi Stoph in Erfurt und in Kassel 1970; Günter Guillaume; Rücktritt Willy Brandts; Herbert Wehner; Putsch in Chile 1973; Central Intelligence Agency (CIA)

4. Teil: Erich Honecker; Wohnungsbau; "Einheit von Sozial- und Wirtschaftspoltik"; Devisen; Zwei-plus-Vier-Vertrag; Souveränität der Bundesrepublik Deutschland 1991; Palast der Republik; Ausweisung bzw. Ausbürgerung Wolf Biermanns 1976; Solidarnosc; Helmut Kohl; Franz Josef Strauß; Freikauf Inhaftierter aus der DDR; Botschaftsbesetzungen; Michail Sergejewitsch Gorbatschow; Glasnost; Perestroika; Lockerung der Zensur; 9. November 1989; Deutsche Einheit bzw. Wiedervereinigung; 3. Oktober 1990; SED; Abwahl Erich Honeckers und Ersetzung durch Egon Krenz; Gesamtdeutsche Wahlen; Stasi-Akten; Wende; EU-Erweiterung nach Osten;

Filmausschnitte: "Die Legende von Paul und Paula" (1973), "Solo Sunny" (1980)

Filmstab

Regie
  • Thomas Grimm
Kamera
  • Jan Cords
  • Lars Olaf Wendt
Schnitt
  • James-A. Wehse
Ton
  • Rigo Schmidt
Redaktion
  • Thomas Grimm
Person, primär
  • Egon Bahr
  • Peter Ensikat
Person, sekundär
  • Bertolt Brecht
  • Konrad Wolf
  • Rolf Herricht
  • Wolf Biermann
  • Otto Grotewohl
  • Alexej Kossygin
  • Michail Gorbatschow
  • Friedrich Luft
  • Peter Passetti
  • Volker Braun
  • Günter Guillaume
  • Henry Alfred Kissinger
  • Heiner Müller
  • Stefan Heym
  • Egon Krenz
  • Kai-shek (Kai-schek) Chiang (Tschiang)
  • Wolfgang Schäuble
  • Walter Ulbricht
  • Juri Andropow
  • Rudi Dutschke
  • François Mauriac
  • Richard M. Nixon
  • Herbert Richard Wehner
  • Valentin Michailowitsch Falin
  • Erich Mielke
  • Marianne Wünscher
  • Rainer Barzel
  • Hans-Dietrich Genscher
  • Christoph Hein
  • Hans Bentzien
  • Andrei Andrejewitsch Gromyko
  • Ronald Wilson Reagan
  • Alexander Schalck-Golodkowski
  • Oskar Fischer
  • Erich Honecker
  • Franz Josef Strauß
  • Hans Teuscher
  • Kurt-Georg Kiesinger
  • Karl May
  • Herbert Mies
  • Alexander Jakowlew
  • Helmut Kohl
  • Markus Wolf
  • Horst Ehmke
  • Dieter Hildebrandt
  • Helmut Schmidt (1918-2015)
  • Hans Modrow
  • Josef W. Stalin
  • Pjotr Andrejewitsch Abrassimow
  • Conny Ahlers
  • Alexander Dubcek
  • Robert McNamara
  • Jewgeni Lwowitsch Schwarz
  • Eberhard Esche
  • Konrad Hermann Joseph Adenauer
  • Willy Brandt
  • Michael Kohl
  • Willi Stoph

Langinhalt

1. Teil

Erinnerungen von Bahr und Ensikat an die Kindheit. Bahrs Vater sagte schon 1933 „Hitler bedeutet Krieg“, aber in den dreißiger Jahren kam kein Krieg, Bahr empfand sogar stolz, erst mit dem Überfall auf die SU änderte sich das. Niemand hat bisher Russland besiegt, Angst vor der Niederlage. Ensikats erste Erinnerung war, als die Mutter die Nachricht erhielt, dass der Vater gefallen war. Da war er drei Jahre alt. Die nächste Erinnerung ist die Befreiung von Finsterwalde. Von Nazis geprägtes Russenbild, obwohl kein Schuss fiel und die Russen nett zu den Kindern waren. Bahr hat andere Erinnerung an die Russen. Am 20. Juli 1944 aus Wehrmacht entlassen, weil die Großmutter angeblich Jüdin war. Angst vor den Russen, weil sie sich die Frauen genommen haben. In Ensikats Erinnerung gab es in Finsterwalde keine Nazis, nur Greueltaten von polnischen Fremdarbeitern und Russen. Gemeinsame Erinnerungen über die Nachkriegszeit, Hunger, Kohlenklau. Bahr arbeitete als Journalist bei den Amerikanern, über Grotewohl und die Parteienlandschaft nach 1945, über die Luftbrücke, Währungsreform, Bahrs Arbeit beim RIAS, Atombombenbau der SU und Bedeutung der Wismut. Über den RIAS in der Zeit des 17. Juni 1953, über Personenkult von Ulbricht, Altersstarrsinn bei Ulbricht und Adenauer. Über den Mauerbau, Fluchthilfe. Ensikat wollte 1962 weg als er gemustert wurde. 1985 wollte die Stasi ihm die Ausreise nahelegen, wegen eines Kabarett-Textes über Mielke. Über Brandts Ostpolitik, Wandel durch Annäherung.

 

Transkript

00:00:45

Bahr: Tja, so fing es an. 1933 als die Nazis an die Macht kamen, hat mir mein Vater gesagt: „Hitler bedeutet den Krieg.“ Aber ’34 war kein Krieg, ’35 auch nicht. ’36 kam die Welt nach Berlin und machte den Kotau vor unserem Führer und Reichskanzler. ’37 auch nicht. ’39 begann es doch! Aber wie! Na, fabelhaft! Zehn Tage Polen! Sechs Wochen Frankreich! Das hatte das Kaiserreich nicht mal in vier Jahren geschafft. Und, das war alles für mich ungeheuer eindrucksvoll. Ich habe sogar ein bisschen Stolz verspürt. Und dann kam der berühmte 20./21.Juni 1941

 

00:01:44

Ensikat: Der Überfall auf die Sowjetunion.

Bahr: Das war ein Sonntag. Da habe ich auch zum ersten Mal die Fanfare gehört, diese geniale Bearbeitung von Liszt „Le Prelude“ und da hatte ich das Gefühl: Jetzt fängt die Erde an zu beben. Das ist der Anfang vom Ende. Mein Vater hatte doch recht! Ja.

Ensikat: Das war Ihnen also 1941 schon klar, also, das würde das Ende sein?

Bahr: Niemand hatte Russland besiegt, niemand kann Russland besiegen. Das ist unmöglich. Also, das war ein Sich-Übernehmen mit den Kräften. Das war mir völlig klar. Mein Vater hat gesagt, danach: „Jetzt kannst du nur noch versuchen, mit dem Arsch an die Wand zu kommen, damit man durchkommt.“

 

00:02:36

Ensikat: Ja. Also, meine erste Erinnerung ist eigentlich, als meine Mutter die Nachricht bekam, dass mein Vater gefallen ist. Da war ich knapp drei Jahre alt und ich erinnere mich nur noch, dass ich irgendwie geahnt habe, dass was Schreckliches passiert ist, aber natürlich nicht wusste, was. Und dann, die nächste Erinnerung ist dann 1945, am 28. April. Wir wohnten in Finsterwalde und die Russen marschierten ein, ohne einen Schuss abzugeben, weil da ein paar mutige Leute am Wasserturm, also das war das höchste Gebäude von Finsterwalde, die weiße Fahne gehisst hatten. Und die Russen einfach einmarschierten und die SS, die davor lag, die war einfach so verblüfft, dass kein Schuss gefallen ist. Und wir waren alle im Vorderhaus und eine meiner Vorstellungen von den Russen war eigentlich das, was man auf den Plakaten sah. Diesen…, dieses Mongolengesicht da mit dem Messer zwischen den Zähnen. Also ich hatte eine Vorstellung vom Teufel eigentlich. Das war für mich das Böse überhaupt. Ich war vier Jahre alt. Und dann kamen wir runter auf den Hof und da waren dann wirklich… Waren wohl Kasachen oder so. Die hatten wirklich solche Augen, aber sie waren überhaupt nicht so groß. Sie waren sehr klein und sie sahen eigentlich eher jämmerlich aus.

Und sie waren zu uns Kindern ungeheuer freundlich. Das hat aber unser Bild von den Russen überhaupt nicht verändert. Das hielt sich also lange, lange – bis in die Fünfzigerjahre. Obwohl wir sie anders erlebten, hat doch diese, die Wirkung der Nazi-Propaganda angehalten.

 

00:04:25

Bahr: Also, ich hab’ ’ne ganz andere Erinnerung, als die Russen kamen. Zunächst mal, ich war zwei Jahre beim Kommiss, also bei der Wehrmacht. Und ich hatte das Glück, 1944 entlassen zu werden, weil sich herausgestellt hat, jedenfalls für die Wehrmacht, dass meine Großmutter Jüdin gewesen ist. Also wurde ich am 20. Juli entlassen. Aber dann fand der 20. Juli statt, das heißt, die Offiziere, der Aufstand gegen Hitler, der vergebliche Versuch, ihn zu ermorden. Danach sind mehr Soldaten und Zivilisten umgekommen, als in den ganzen vier Jahren vorher, bis zum Ende des Krieges. Und die kamen eines Nachts an. Wir saßen im Keller und dann kam ein Bajonett um die Ecke, und darauf folgte ein Mann. Dann ging der durch und plötzlich war er erschrocken und blieb stehen, weil er nämlich einen Draht sah, unterhalb des Stützbogens, des Stützbalkens. Was immer der gedacht hat, kann man sich ja vorstellen. Und wir haben, um ihn zu beruhigen, ihm gesagt: „Guck mal hier.“ Haben angestellt: Radio. Nette Unterhaltungsmusik. Wundervoll! Dann ging er mir noch an die Kehle, wollte mich… Ich weiß nicht, warum. Meine Mutter hat schrecklich geschrien, meine spätere Frau auch. Aber er hat mich dann auch wieder losgelassen. Das heißt, dann begann eine Zeit, in der wir Angst hatten.

 

00:06:11

Weil die sich natürlich die Frauen genommen haben. Und meine Frau hatte das unübersehbare Zeichen meines späteren Sohnes – wussten wir natürlich noch nicht, ob das ’ne Tochter oder ein Sohn wird – und ist einmal am Tage unter ein Bett gekrochen mit ihrem dicken Bäuchlein. Kam aber hinterher nicht mehr allein raus, weil es zu eng war. Da haben wir angehoben. Das heißt, es war sehr unangenehm, es war sehr unangenehm!

 

00:06:43

Ensikat: Ja, also bei uns war es… Die Erzählungen über Vergewaltigungen von Frauen, davon haben wir als Kinder auch überall gehört. Wir hörten von ganz schlimmen Verbrechen der Russen, immer wieder. Oder der polnischen Fremdarbeiter, die da marodierten, angeblich. Ich hab’ sie nie gesehen. Es wurde ungeheuer viel von den Verbrechen der Russen gesprochen, oder der Polen, aber kein Wort, kein Wort von irgendwelchen vorhergehenden deutschen Verbrechen. Also, in meiner Erinnerung gab es in Finsterwalde keine Nazis.

 

00:07:17

Filmeinspiel: Nackt unter Wölfen.

 

00:07:47

Bahr: Ich wusste, dass es KZs gab. Was dort passiert ist, industrielle Menschenvernichtung, konnte man sich überhaupt nicht vorstellen. Ich konnte mir auch nicht vorstellen, dass die Wehrmacht in solche Verbrechen verwickelt worden ist. Ich muss auch gestehen, ich hab’ gar nicht in dieser Dimension damals gedacht. Ich hab’ nur gedacht: Mensch, jetzt musst du versuchen, von Tegel-Ort noch mal zurückzukommen. Mal sehen, wie’s in Weißensee aussieht in der Wohnung. Und man muss Fensterscheiben versuchen, oder Pappe versuchen zu organisieren und für den Winter irgendwas zu heizen und ein Dach über’m Kopf. Das heißt, es war ganz primitiv angesichts der Trümmerwüsten. Ein Überlebensgefühl. Und eigentlich das Glücksgefühl, man hat es geschafft.

 

00:08:53

Ensikat: Ja, meine Erinnerungen an die Nachkriegszeit decken sich damit eigentlich ziemlich. Man war so beschäftigt damit, was zu essen zu bekommen oder was zum Heizen zu bekommen. Ich erinnere mich, mein Bruder, der drei Jahre älter ist als ich, vier Jahre älter ist als ich, der ging Kohlen klauen. Und meine Mutter lehnte es strickt ab, dass irgendwer was klaute. Wir hätten aber ohne Klauen gar nicht überleben können, nicht? Also, sie hat dann…

Bahr: Ich auch nicht!

Ensikat: Sie hat dann auch die eindeutig geklauten Kartoffeln natürlich gekocht. Und hat…

Bahr: Na klar!

Ensikat: …meinen Bruder beschimpft, dass er sie geklaut hatte. Aber wir hätten anders nicht überlebt.

 

00:09:30

Bahr: Ich hatte kein Geld. Also nicht mal das Geld, um die paar Lebensmittel zu kaufen, die es auf Marken dann gab. Weil ich dummerweise gedacht hatte, Reich ist zu Ende, die Reichsmark ist auch zu Ende. Das war aber ein Irrtum. Und da habe ich dann angefangen zu arbeiten als Reporter. Und bei den Amis in Tempelhof habe ich dann richtig gelernt. Wann, wer, wie, wo, was bitte im ersten Satz. Und als ich mal irgend ’ne Meldung, Zwei-Finger-System auf der Schreibmaschine tippen wollte, guckte der mir über die Schulter und sagte: „Wollen Sie Krieg und Frieden neu anfangen zu schreiben?“ Also, das war eine unglaubliche Zeit. Wir hatten Hunger, haben auch gefroren, aber haben gleichzeitig gevöllert an Kultur. Denn nun brachten alle vier das Beste, was sie hatten nach Berlin, und es begann der Kampf um die Seelen der Deutschen.

 

00:10:45

Ensikat: Wie haben Sie den Zusammenschluss oder die Zwangsvereinigung von KPD und SPD erlebt?

Bahr: Grotewohl war zusammen mit den CDU-Leuten im Frühsommer 1945 dabei zu überlegen, ob man in Deutschland eine Labour-ähnliche Partei gründen könnte, die das, was später SPD und später CDU wurde, zusammenfassen könnte. Und diese Besprechungen und Beratungen platzten in dem Augenblick, in dem Ulbricht zurückkam und als erstes die KPD gründete. Und da wurde Grotewohl nervös, weil er sagte: „Das ist ein eingeführter Markenname.“ So hat er bestimmt nicht gesprochen. Aber: „Es ist notwendig, dass die Arbeiterschaft einen bekannten Namen, einen bekannten Begriff für eine Partei sieht. Und deshalb werde ich die SPD gründen. Wir können ja später weiterreden.“ Dazu ist es bekanntlich nie gekommen. Und für mich ist das insofern eine tragische Sache und eine tragische Figur, dieser Grotewohl, weil er natürlich die Reichseinheit behaupten wollte und wusste, wenn erst mal eine Partei gespalten ist, dann wird wohl auch die Spaltung des Landes nicht aufzuhalten sein.

 

00:12:29

Da ging es dann zur Vereinigung von SPD und KPD und das war zum großen Teil natürlich wirklich eine Zwangsvereinigung, weil viele Leute in der SPD nein gesagt haben. Andere haben ja gesagt. Das Gleiche fand in Westdeutschland statt.

 

00:12:51

Ensikat: Bei mir in der Familie hat diese Vereinigung wirklich nie geklappt. Der eine Zweig meiner Familie, mein Großvater kommunistisch – der andere Zweig, der in Schöneweide wohnte, war sozialdemokratisch. Wobei man sagen muss, also, mein Großvater war bis ’32, 1932 in der SPD, dann trat er in die KPD ein. Und etwa ’34/’35 trat er in die NSDAP ein, um dann 1945 postwendend in die KPD einzutreten und dann zum SED-Genossen wurde, während der sozialdemokratische Zweig, der blieb bis 1961, bis die Ost-SPD sich selbst aufgelöst hat, sozialdemokratisch. Und daher stammte auch also von meiner Mutter dieser Satz: „Werdet bloß nicht wie euer Großvater.“ Damit war es völlig ausgeschlossen, dass einer von uns in die Partei hätte eintreten können.

 

00:13:41

Bahr: Na, selbstverständlich hatten Sie jedenfalls eine sehr deutsche, ein sehr deutsches Parteischicksal.

Ensikat: Ja, ja. Es war ja auch so, wenn ich bei meinem Großvater in Biesdorf zu Besuch war, dann durfte ich natürlich nicht nach Schöneweide fahren zu den sozialdemokratischen Verwandten. Umgekehrt, wenn ich in Schöneweide bei den Sozialdemokraten war, dann durfte ich selbstverständlich nicht zu meinem Großvater fahren.

 

00:14:03

Bahr: Meine Erinnerung geht dann auf die Luftbrücke. Das Geräusch der einfliegenden oder ausfliegenden Maschinen, die nicht sehr weit im Korridor von dem Haus, in dem ich wohnte, ein- und ausflogen, war Musik. Ich bin nachts aufgewacht, wenn eine mal, eine Maschine ausfiel. Da fehlte plötzlich etwas. Und die Geschichte, dass man eine Luftbrücke machen könnte, war noch ganz unwirklich. Ob es funktioniert. Aber ich muss sagen, die Berliner haben, jedenfalls die Westberliner, eine ungeheuere Moral gezeigt. Es war der Anfang der heroischen Zeit in Westberlin. Und zwar aus folgendem Grunde: Dass Deutsche etwas riskierten, um frei zu sein und frei zu bleiben, war die erste positive Nachricht aus Deutschland für die amerikanischen Zeitungen und ihre Headlines.

 

00:15:19

Ich hab’ dann viel, viel später, in den Siebzigerjahren, mit meinem sowjetischen Gesprächspartner gesagt: „Ihr habt damals mit dem Einsatz der Hunger-Waffe den Kampf um die Seelen der Deutschen verloren. Und ihr habt überhaupt verloren, weil ihr euch nicht durchsetzen konntet.“ Und da hat er genickt mit dem Kopf und hat gesagt: „Das stimmt. Aber die Amerikaner haben in derselben Zeit China verloren.“ Denn selbst Amerika konnte nicht eine doppelte Luftbrücke – in China zur Unterstützung von Chiang Kai-shek und in Europa, um Berlin zu halten – machen. Und ich war, offen gestanden, das stimmte ja auch, sehr froh, dass die Amerikaner damals gesagt haben: “Europe first.“

 

00:16:15

Ensikat: Das Merkwürdige ist ja, dass die Russen auch in oder gerade in der Ostzone, in der SBZ, wie es damals hieß, kaum Sympathien bei der Bevölkerung bekamen. Also, auch diese Berlin-Blockade hat ihnen auch im Osten ungeheuer geschadet. Weil, wir hatten ja alle natürlich Verwandte in Westberlin wie in Ostberlin. Und das brachte eigentlich beide, glaube ich, gegen die Russen auf.

Bahr: Ja, ich nehme an, das entspricht auch meiner Erinnerung. Aber man muss sich ja vorstellen, dass Berlin 1948, 1949 nach wie vor eine Einheit war. Obwohl inzwischen die Verwaltungen getrennt worden waren, nicht? Die Verwaltungen platzten praktisch… Oder, man brachte sie zum Platzen – wie man will – durch die Einführung der D-Mark, die Währungsreform.

 

00:17:15

Ensikat: Das war der entscheidende Schritt.

Bahr: Interessant war, am Anfang der Teilung und am Anfang der Einheit stand die Währung.

Ensikat: Ja, ich erinnere mich, ich bin damals für 20 Pfennig mit der Ringbahn immer in Berlin rund rum gefahren und das Erstaunliche war: Es roch in Westberlin anders als in Ostberlin!

Bahr: Stimmt.

Ensikat: Ich weiß nicht, woher das kam. Und dann ist… Das mit der Währungsunion ist natürlich so: Plötzlich, erst mit dieser Währungsumstellung, wurden unsere Verwandten in Wilmersdorf und Friedenau zu Westverwandten. Vorher waren wir gleichberechtigt. Also, alle gleicharm. Und plötzlich wurden die… Die hatten etwas, konnten mit ihrem Geld etwas kaufen, was wir eben nicht bekamen. Das war wirklich also, mit diesem Moment, wo die plötzlich dieses Geld hatten, waren sie andere Menschen geworden – in unserer Betrachtungsweise. Aber es war natürlich wirklich… Diese Westtanten und Westonkels, die ja auch alle nicht verstanden, dass meine Mutter mit ihren drei Kindern überhaupt im Osten blieb. Die immer sagten, soll doch zu ihnen kommen nach Berlin. Es wäre also fast Selbstmord gewesen, damals als alleinstehende Frau mit drei Kindern nach Berlin zu ziehen. Da war man auf dem Lande, also in einer Kleinstadt doch wesentlich sicherer und besser versorgt.

 

00:18:32

Filmeinspiel: Sonnensucher

 

00:19:25

Bahr: Wir hatten in der Allgemeinen Zeitung die Weisung, keine Meldung und keine Meinung zu drucken, die die Russen übel nehmen könnten. Das war die äußere Geschichte. In Wirklichkeit kam ein Mensch eines Tages, der meldete sich aus Aue und sagte: „Bei uns ist Pechblende gefunden worden.“ Und wir wussten natürlich: Das ist der Rohstoff für die Entwicklung der Atombombe. Und ich bin zu meinem amerikanischen Chef gegangen und hab’ gesagt: “Wir haben ’ne Weltmeldung für morgen früh.“ Und der guckte sich das an und sagte: „ M, m, ich muss das erst nach Washington berichten, damit meine Leute wissen, bevor die Russen wissen, dass wir es wissen. Und er gab also für den Überbringer und für mich eine Stange Zigaretten und so geschah es. Das heißt unter der Decke brodelten die, oder begannen jedenfalls die Machtinteressen zwischen Amerikanern und Sowjets und ich hab’ mir gedacht: Mensch, also wenn die Sowjets Rohstoff für die Atombomben in der sowjetisch besetzten Zone kriegen, dann wird das lange sowjetisch besetzte Zone bleiben.

 

00:20:50

Ensikat: Für uns war die Wismut eigentlich lange Zeit so ’ne Art Wildost in Obersachsen. Also, die Zusammenhänge mit der Atombombe die kannten wir – also zumindest wir Kinder – natürlich nicht. Uns war nur so klar: Dort wurden Leute hingebracht – ja, eigentlich Halbkriminelle und die Zustände dort wurden allgemein als ziemlich barbarisch beschrieben. Aber über diese großen Zusammenhänge haben wir erst sehr spät erfahren.

 

00:21:30

Bahr: Also, ich habe eigentlich damals die Geschichte mit dem Uran nicht weiter verfolgt. Das hatte sich ja festgebrannt: Das würde lange dauern mit der deutschen Einheit. Ich hatte auch keine Angst vor Krieg. Weil ich genau wusste, wenn es dazu kommt, werden wir gar nicht gefragt. Wir waren doch völlig souveränitätslos, kann man politisch sagen. Aber alle haben über uns bestimmt.

Ensikat: Neben dem Hunger in der Nachkriegszeit war für mich, und ich glaube für viele andere auch im Osten, die Angst vor Krieg etwas ganz Bestimmendes. Die furchtbare Angst, es könnte gleich wieder zum Krieg kommen. Und als die Bundesrepublik gegründet wurde, schon das begann man eigentlich zu fürchten, dass der Westen uns aufgegeben hatte. Dieses Gefühl verstärkte sich natürlich immer mehr. Adenauer als Separatist war uns durchaus ein Begriff, eben als Separatist. Und die Gründung der DDR, die war für uns eher unerheblich.

Bahr: Ach!

 

00:23:00

Ensikat: Also, das ist etwas – ich spreche jetzt, ich kann wirklich nur für mich sprechen und für meine Umgebung sprechen – es war… Wir guckten immer viel mehr nach dem Westen. Wir kannten alle Minister im Westen. Unsere Politbüromitglieder kannten wir kaum beim Namen. Es war diese Fixierung auf den Westen.

Bahr: Sie haben als DDR-Bevölkerung nach Westen geguckt, die Westdeutschen auch. Die Blicke haben sich nie getroffen.

Ensikat: Ja.

 

00:23:29

Bahr: Da begann die mentale Auseinanderentwicklung, die wir noch heute spüren.

Ensikat: Und der Sender, den wir zu Hause hörten, war der RIAS. Das war also von Onkel Tobias bis Egon Bahr! Das war ganz klar. Oder Friedrich Luft. Der RIAS prägte eigentlich unser Bild, unser Weltbild. In der Schule lernten wir was ganz anderes. Aber wir haben dem RIAS geglaubt, auch da, wo er Kalten Krieg geführt hat, und das hat er ja gemacht, nicht?

 

00:24:00

Bahr: Und was den RIAS angeht, bei dem ich seit 1950 war, war natürlich ein kalter Krieger, der Sender. Es ging gar nicht anders. Wir fühlten uns bedroht. Und ich hab’ nicht den geringsten Zweifel, auch heute noch nicht. Wenn es denn ohne Risiko gegangen wäre, hätte die DDR Westberlin kassiert. Denn es war eigentlich unerträglich, diesen leuchtenden Stern mitten auf dem eigenen Gebiet zu haben. Und das hat sich ja dann besonders gezeigt 1953. Da war ich Chefredakteur des RIAS. Am Nachmittag des 16. Juni kamen Leute in mein Büro von der Streikleitung und forderten uns auf, zum Aufstand in der Zone aufzurufen. Das konnte natürlich ein amerikanischer Sender überhaupt nicht. Ich konnte denen das aber so nicht sagen und hab’ dann gesagt: „Welche Forderungen habt ihr denn überhaupt?“ Ich hatte noch vorher gesagt: „Gibt es denn irgendwelche organisatorischen Vorbereitungen? Verbindungen, Kontakte, Strukturen?“ Gab’s aber nicht. Die haben gesagt: „Das brauchen wir nicht. Das geschieht von allein.“ Das glaubte ich nun wiederum nicht. Und dann haben wir uns hingesetzt und haben ihre Forderungen gehört und formuliert und in fünf oder sechs Punkten aufgeschrieben und haben denen zugesagt: „Wir werden das senden.“ Dann gingen sie ab, nicht sehr, aber doch halb befriedigt und wir haben das gesendet und das war’s dann zunächst einmal. Und dann haben wir erst Tage später festgestellt, dass diese Forderungen in dem Wortlaut, in der Reihenfolge, in der ganzen sowjetischen besetzten Zone benutzt worden waren. Das heißt, der RIAS wurde, ohne es zu wissen und ohne es zu wollen, zum Katalysator des Aufstandes.

 

00:26:28

Ensikat: Das deckt sich genau mit dem, wie ich den 17. Juni in Finsterwalde erlebt habe. Da gab es Unzufriedenheit. Die war damals allgemein. Es ging um diese Normen, es ging auch noch um Preiserhöhungen. Und, aber die Arbeitsniederlegung in Finsterwalde in den beiden großen Fabriken dort, einer Schraubenfabrik und in der FIMAK, die begannen, bei Kählberg noch, die begannen erst nach dieser Meldung, erst nachdem diese Meldung über RIAS in Finsterwalde gehört worden war.

Bahr: Ja, und es war, ich glaube, das erste Mal in der Geschichte, dass sich gezeigt hat, dass ein elektronisches Medium in der Lage ist, innerhalb von Stunden durch die Verbreitung, die es nun hat, eine Veränderung der politischen Situation herbeizuführen.

 

00:27:20

Ensikat: Also die wesentlichste Erinnerung an das Jahr ’53 ist neben der Erinnerung an den 17. Juni die an Stalins Tod. Ich weiß noch genau, ich lag auf dem Sofa, las Karl May, ich weiß nicht mehr, ob Winnetou I oder II oder III, also einen auf jeden Fall davon, und hatte einmal nicht den RIAS angestellt, sondern irgendwie Berliner Rundfunk oder so was. Und plötzlich ertönte eine furchtbare Trauermusik und eine Stimmer verkündete also, dass der große weise Führer und Vater aller Werktätigen gestorben sei. Und das klang damals so, ja, als könne die Welt jetzt, als sei die Welt jetzt zu Ende. Ich hab’ kurz unterbrochen und dann habe ich weiter Karl May gelesen.

 

00:28:11

Bahr: Ich hab’ eine ganz andere Erinnerung, natürlich. Karl May hatte ich schon hinter mir. Als die Nachricht von Stalins Tod kam, hab’ ich gedacht, das ist ein Abschnitt in der Weltgeschichte, nicht nur der Geschichte der Sowjetunion. Und nun, mal sehen, was jetzt ist. Das war ein Unsicherheitsfaktor.

1952 hatte Stalin mit seiner Note im Prinzip die DDR zur Disposition gestellt. Und ’72 reagierte… und ’52 reagierte aus demselben Anlass Adenauer, indem er die Note abwies, noch bevor die Westmächte sie abweisen konnten.

 

00:28:53

Ensikat: Die Abneigung, die Adenauer gegenüber dem Osten empfand, die haben wir eigentlich ihm gegenüber auch empfunden. Also, uns war… Dass der sich für uns jemals interessiert hätte, haben wir einfach nicht gespürt. Also, da man einfach… Als die Mauer gebaut war, er kam ja nicht mal nach Berlin! Das waren alles so Dinge, an denen wir merkten: Der ist an uns gar nicht so interessiert. Ulbricht war, ich glaube, in der DDR der Meistgehasste, der Spitzbart. Andererseits war er natürlich auch eine sehr komische Figur. Also, als wir an der Schauspielschule waren, wir hatten ihn alle drauf!

Bahr: (lacht)

Ensikat: Es gibt, er war ja so wunderbar zu imitieren, nicht?. Das war einfach…Also, ich weiß noch, wir hatten im ersten Kartoffeleinsatz, von der Theaterhochschule aus, in den Herbstferien: Peter Sodann sammelt vor mir Kartoffeln und (Ensikat imitiert) fängt plötzlich an: „Also, Genossen…“, so an zu reden. Und alle, das ganze Feld, sprach jetzt Ulbricht. Das war natürlich eigentlich verboten. Ne, also, Witze über ihn zu machen, war verboten. Um so mehr gab’s natürlich von ihm. Gab’s einen wunderschönen Witz übrigens über…: Kommt ein Mann in einen Laden und sieht Ulbricht-Büsten aus Messing, Porzellan, Gips, in allen Größen. Und da kommt der …, ein Kunde kommt rein. Fragt ihn der Verkäufer: „Haben Sie schon gewählt?“

Bahr:(lacht)

 

00:30:25

Ensikat: Unter anderem soll er einmal nach Adlershof ins Fernsehstudio gekommen sein und dort stand über einen Raum: Abnahmeraum. Normal! Und da sagte er (Ensikat imitiert): „Also, Genossen Abnahme, Abnahme gibt es im Sozialismus nicht.“ Und seitdem hießen dann übrigens die Abnahmeproben in den Kabaretts nicht mehr Abnahmen sondern Interessentenproben.

Bahr: (lacht). Also, für uns war natürlich „Der Spitzbart muss weg!“ auch geläufig. Und wir haben den für einen nicht nur Feind gehalten, sondern einen Vertreter der deutschen Teilung und haben erst lange nach seinem Tode durch Veröffentlichungen erfahren, dass der Ulbricht angefangen hatte, seine bedingte Selbständigkeit auszubauen gegenüber den Sowjets, mehr als dann sein unmittelbarer Nachfolger Honecker das, jedenfalls am Anfang, machte. Bis er dann in die Fußstapfen Ulbrichts insofern trat und selbständiger sein wollte, als er durfte.

 

00:31:30

Ensikat: Ja, das waren dann dieser, der Altersstarrsinn, bei beiden, glaube ich, nicht? Das war also…

Bahr: Ja, bei Adenauer war bei mir völlig klar, nicht nur bei mir, völlig klar, das lag an seiner Herkunft. Der war wirklich Rheinländer und hatte innere Beziehungen zum Osten wie später ein Saarländer. Also, ich meine nicht, der Honecker, sondern der Andere.

 

00:32:10

Ensikat: Der Andere, ja. Ulbricht hätte ja in einem Vereinigten Deutschland gar keine Chance gehabt. Die ganze SED hätte kaum eine Chance gehabt. Die wäre vermutlich an der Fünf-Prozent-Hürde schon gescheitert. Und dass bei uns nun ewig lange nun diese Losung hieß: Deutsche an einen Tisch! Ich glaube, das konnten sie nur sagen, weil sie sicher waren, dass die andere Seite das nicht wollte.

Bahr: Das stimmt. Das hat mit Michael Kohl, einige Jahre später, als wir verhandelt haben, noch mal bestätigt. Wir konnten alles vorschlagen. Wir wussten, Bonn würde es ablehnen.

Ensikat: Ja, und nicht nur Bonn. Ich glaube auch die Franzosen, zum Beispiel. Es gibt doch von François Mauriac diesen schönen Ausspruch: „Ich liebe Deutschland so sehr, dass ich froh bin, dass es zwei davon gibt. Und ich glaube, das war die Haltung, hatte natürlich auch mit der Angst vor einem wiedervereinigten Deutschland zu tun.

 

00:33:03

Bahr: Also, ich glaube, es kann keinen Zweifel geben, dass die Sorge vor einem Krieg in Europa bei der Weiterentwicklung der Waffentechnik inzwischen so groß geworden war, dass man auf allen Seiten, in Washington wie in Moskau, natürlich London und Paris sowieso, zu dem Ergebnis gekommen war, dass Beste, was uns passieren kann, ist, dass der Status Quo, so wie er ist, erhalten bleibt.

 

00:33:39

Filmeinspiel: Berlin, Ecke Schönhauser

 

00:34:44

Bahr: Also, wenn ich diese Bilder sehe, Hab’ ich zwei Empfindungen. Erstens: So primitiv ging es damals nicht zu. Das war viel raffinierter. Und zwar im Prinzip genauso, wie es gezeigt worden ist. Von beiden Seiten. Berlin war natürlich ein Zentrum, ein Tummelplatz, ein Bienenkorb für alle möglichen Geheimdienste von allen möglichen Ländern, die glaubten, hier etwas fischen zu können.

 

00:35:21

Bahr: Eine Folge des Mauerbaus war natürlich, dass eine Reihe von Menschen versucht hat, aus Westberlin Leute rauszubringen aus dem Ostsektor. Mit großen auch idealem Einsatz. Studenten haben geholfen, falsche Pässe, rüberzugehen. Das wurde dann immer weniger. Und dann wurden auch Tunnel gebaut. Und das war auch noch alles in Ordnung. Aber selbstverständlich, wie gar nicht anders möglich, wurde diese Sache kommerzialisiert. Und in dem Maße, in dem sie kommerzialisiert wurde und Geld dabei eine Rolle spielte, wurde sie auch fragwürdig. Auch im Ansehen der westdeutschen Öffentlichkeit fragwürdig.

 

 

00:36:15

Ensikat: Ich hätte mir übrigens 1962 gern von den kommerziellen Fluchthelfern helfen lassen. Das war der einzige Zeitpunkt, zu dem ich die DDR verlassen wollte. Da war nämlich die Wehrpflicht eingeführt worden und ich war schon gemustert. Und das war für mich die schrecklichste Vorstellung, zur Armee gehen zu müssen. Ich wollte auch nicht in die Bundesrepublik, ich wollte nach Westberlin, wo man nicht Soldat werden musste. Ist mir dann nicht gelungen. Mir ist es dann gelungen, mich um die Armee zu drücken hier in der DDR. Das war schwer, aber es ist mir gelungen.

 

00:36:51

Bahr: Also ich meine das ganz ehrlich: Ich bin froh, dass du geblieben bist.

Ensikat: Ja, im Nachhinein. Ich hatte ja…

Bahr: Wir haben bei vielen gewünscht, dass sie bleiben.

Ensikat: Mir wurde ja dann sogar mal die Ausreise angeboten, 1985 oder so. Wegen eines Kabarett-Textes! Wegen eines Kabarett-Textes, der von Mielke handelte, wurde mir von der Stasi die Ausreise mit Familie angeboten. Und da habe ich dann gesagt, und darauf, darauf war ich damals schon stolz, bin immer noch stolz: „Mich müsst ihr rausschmeißen. Freiwillig gehe ich nicht.“

 

00:37:25

Ensikat: Ich hatte nämlich in einem Text nicht nur über die Stasi im Allgemeinen geschrieben, sondern über den Genossen Mielke. Wo zum Beispiel stand, dass er, also er… Da es in jeder Würstchenbude einen Menschen gäbe, der für Sicherheit zuständig sei, müsse das natürlich auch im Politbüro so sein, nicht? Da ist also der Genosse Mielke und der passt auf, dass im Politbüro keiner was anstellt. Wobei ich mir gar nicht vorstellen kann, dass die noch wissen, was anstellen heißt. So was, so in diesem… also es war eher Humor als Satire. Aber das reichte eben aus, um, ja, mir die Ausreise anzubieten.

 

00:38:05

Ich wollte in den Fünfzigerjahren, also in den … In der zweiten Hälfte der Fünfzigerjahre hatte ich eigentlich nur einen Wunsch: Ich wollte genau das werden, was Sie damals waren, Journalist nämlich. Und das hat nur meine Mutter verhindert, indem sie mir die Zeitung, die wir da hielten, die Lausitzer Rundschau, das war so ’ne Art Spätausgabe vom Neuen Deutschland – also da stand das, was montags im Neuen Deutschland stand, das stand dann dienstags in der Lausitzer Rundschau, die wir da in Finsterwalde lasen –; meine Mutter legte mir diese Zeitung hin und fragte mich: „ Willst du so was schreiben?“ Hm, hm. Und da war mir klar: Nein, das nicht! Und dann bin ich aus lauter Hilflosigkeit – ja – Schauspieler geworden. Da hab’ ich mich dann an der Schauspielschule in Leipzig beworben. Bin erstaunlicherweise sofort angenommen. Hab’ alle drei Prüfungen bestanden und fand eigentlich diese DDR zu dieser Zeit besser als die Bundesrepublik, weil in der DDR damals das bessere Theater gemacht wurde. Also das Brecht-Theater. Brecht-Theater, Felsenstein. So was hätte es in der Bundesrepublik damals gar nicht geben können. Und das war auch, ja, damals meinte ich noch, mit, mit Theater, mit Kunst könnte man die Welt verändern. Ich glaube, so was muss man irgendwann mal glauben…

Bahr: Natürlich!

Ensikat: …denn, also. Und ich hab’s relativ lang geglaubt. Dann kam ja noch hinzu, dass wir in, in Leipzig dann, dass unser Kabarett verboten wurde, was natürlich unsere Bedeutung ins Unermessliche steigerte. Wenn man ein, wenn man verboten werden muss, dann richtet man doch was aus! Das war für mich nicht etwa ein Grund zu resignieren, sondern das war für mich ein Grund: jetzt erst recht!

Bahr: Hm.

 

00:39:42

Ensikat: In diesem Kabarettprogramm, das da in Leipzig erboten wurde, kam eine Szene zum Beispiel vor: Da lag ein Mensch bewusstlos am Straßenrand und da wurde gefragt: „Warum ist der bewusstlos?“ „Ja, der hat nicht vertragen, dass in der Volkskammer einer mal mit Nein gestimmt hat.“ Oder: Ich hatte einen Vers drin – an den kann ich mich nur erinnern, weil es diese, weil ich dann diese Gerichtsakten gelesen habe –, der lautete: Im Osten große Hungersnot, Bevölkerung ist zum Teil schon tot. Regierung lebt von Russischbrot. Oh, Gott! Und das war natürlich, also das war Westpropaganda. Es war antikommunistisch. Ne, es war harmlos eigentlich. Es ist total harmlos. Also ich, man könnte heute überhaupt nicht mehr sagen, was, was da… Es ist lächerlich, weshalb wir verboten wurden. Oder eine andere Sache war: Der damalige Kulturminister hieß Bentzin. Und da untersuchten zwei auf der Bühne den Flügel und sagten dann: „Ja, hier muss mal wieder Benzin ran.“ Daraus wurde geschlossen: Benzin ran heißt anzünden. Also Konterrevolution halt! Nicht? Mit solchen Mitteln wurde da gearbeitet.

00:40:50

Bahr: Also, erstens muss Ihre Mutter eine kluge Frau gewesen sein. Dank ihr…

Ensikat: War sie.

Bahr: …sind Sie nicht Journalist geworden. Zum andern, ich hab’ natürlich auch geglaubt, ich kann mit Schreiben die Welt verbessern. Und als ich erst lange genug geschrieben und geredet hatte, ohne dass die Welt deshalb besser wurde, habe ich gedacht: Dann musst du versuchen, durch Handeln etwas zu bewirken. Das konnte man übrigens auch, wenngleich nicht eigentlich so, wie man es sich eigentlich vorgestellt hatte.

 

00:41:21

Ensikat: Wie ist es eigentlich zu dieser Politik der kleinen Schritte gekommen, oder , sagen wir mal, wie kam es zum Wandel durch Annäherung?

Bahr: Der Ausgangspunkt war, wie gesagt, die Mauer. Da begann das Umdenken. Und dann hatte Brandt eine tolle Rede gearbeitet oder, wir beide hatten an dieser Rede gearbeitet, mehrfach hin und her. Er sollte auch auf der Akademie in Tutzing, wollte er, sein neues außen- und deutschlandpolitisches Konzept machen. Die Rede liest sich heute noch fabelhaft. Und dann rief der Direktor an und sagte, ich sollte mich auf einen kleinen Beitrag vorbereiten und ich wusste nicht, was ich da noch sagen sollte. Bis ich auf die Idee kam, ich nehme einen Punkt aus der Rede von Brandt und exemplifiziere, was bedeutet das für das Verhältnis der beiden deutschen Staaten. Hab das dann runterdiktiert. Das hieß dann Wandel durch Annäherung, kam auch vor im Text, hab’ das unterwegs dem Brandt gezeigt, während des Fluges. Sagt er: „Ja, ist alles in Ordnung.“ Wir waren also mit dem Denken viel weiter als die Öffentlichkeit und haben überhaupt nicht geahnt, dass dies wie eine Bombe wirken würde. Und wenn Brandt nicht den, seine Hand über mich gehalten hätte, wäre ich wieder Journalist geworden, hätte mehr Geld verdient und… Na gut, egal. Der Punkt war, wir hatten noch kein Konzept, sondern Wandel durch Annäherung war die Methodik, sich dem Osten zuzuwenden. Wir wollten ja etwas vom Osten, also mussten wir es auch mit denen zusammen versuchen. Und erst im Planungsstab des Auswärtigen Amtes ist dann nach allen Regeln der Kunst daraus ein Konzept gemacht worden oder erarbeitet worden, das dann Ost- und Entspannungspolitik wurde.

 

00:43:10

Ensikat: Und der DDR-Außenminister Winzer nannte es doch ziemlich zutreffend eigentlich diesen Wandel durch Annäherung Aggression auf Filzlatschen.

Bahr: Ich war sauer, weil es stimmte.

Ensikat: Ja. (lacht)

Bahr: Und Brandt hat gesagt: „Halt’s Maul! Du machst es nur noch schlimmer, wenn du darauf polemisch eingehst.“ Also haben wir das geschluckt.

 

Grimm Wollen wir eine kleine Pause machen?

Bahr: Ja, es ist… Wie das befohlen wird. Wir sind doch an sich ganz gut durchgekommen bisher, oder?

Grimm: Ja.

Bahr: Auch zeitlich, oder?

Grimm: Ja, sehr gut.

Bahr: Dann dürfen wir jetzt eine rauchen?

Grimm: Ja.

Bahr: Na, dann machen wir das doch!

 

 

 

2. Teil

Ensikat über DEFA-Lustspiele, Zensur. Bahr über die Große Koalition ab 1966, über Brandts neue Ostpolitik, den Staat akzeptieren und nicht anzuerkennen. Ensikat über Kunst und Kultur in der DDR, 13. Plenum des ZK der SED 1965, Ende des Tauwetters, Verbot von DEFA-Filmen, Theaterstücken. Über 1968 in Ost und West, Studentenrevolte, Prager Frühling, Vietnamkrieg. Ensikat über seine Arbeit im Dresdener Kabarett Die Herkuleskeule. Bahr über die Wahl 1969, Abstimmung der Ostpolitik mit den USA, Backchanel zu Kissinger, Vorbereitung des Moskauer Vertrages mit der SU. Bahr hat zwischen 1969 und 1972 quasi kein Privatleben gehabt. Über die sowjetische Botschaft in der DDR. Rolle von Abrassimow, bei Wechsel von Ulbricht zu Honecker. Über das Verhältnis der Unterhändler Egon Bahr und Michael Kohl für den Grundlagenvertrag.

 

Transkript

Filmeinspiel: Geliebte weiße Maus

00:00:43

Ensikat: Also, das war ja jetzt ein DEFA-Film und die DEFA zeichnete sich nicht gerade durch ihre Lustspiele aus. Das war nicht die Stärke der DEFA. Aber es war für mich trotzdem sehr schön, hier einen wirklich wunderbaren Schauspieler wiederzusehen: Rolf Herricht. Der war nämlich einer der ganz wenigen DDR-Schauspieler, der Boulevard konnte. Das wurde an unseren Schauspielschulen eigentlich weniger gelehrt. Das wurde eher verachtet. Also, ein Peter Passetti, den es im Westen gab, der war bei uns undenkbar. Bei uns wollte man mehr die bodenständigen, mehr die Arbeitergestalten, nicht? Das war auch noch ’ne Folge von Brechts wunderbarem Berliner Ensemble. Und die Dame mit dem Hund, die hier, da mit dem Hund, das war eine, wirklich eine Volksschauspielerin im besten Sinne. Das war Marianne Wünscher. Die war, ich glaube, 30 Jahre an der Volksbühne. Und ich hatte das Glück, mit der auch mal Kabarett zu machen. Das muss so 1965 gewesen sein, auch an der ostberliner Volksbühne. Und dann probierten wir also, Marianne Wünscher, Hans Teuscher. Das Ganze hieß: Was soll das ganze Theater? Und war natürlich, in der DDR war alles politisch, nicht? Es wurde also… Am Beispiel Theater führten wir den Irrsinn dieser Gesellschaft vor. Und die Abnahme, also die Zensur passierte am Morgen des Tages, des Premierentages. Und wir hatten uns geeinigt, Marianne Wünscher, Hans Teuscher und ich, da sie beide nicht Genossen waren, durften sie auch nicht mit zum Abnahmegespräch. Ich als auch nicht Genosse, aber ich war ja Regisseur und Autor, also mich musste man ja dann zu dem Abnahmegespräch laden, wir einigten uns vorher: Änderungen sind nicht mehr möglich, von mittags auf abends, das geht nicht. Und es kam also, es kamen Einwände, also die üblichen: antikommunistisch und defätistisch und was es nicht alles so gab. Ich sage: „Ja, gut. Dann kann es nicht stattfinden. Dann müssen wir die Premiere ausfallen lassen, denn wir sind nicht mehr in der Lage, noch irgendwas umzulernen.“ Da wurde, wurde mir Erpressung vorgeworfen. Aber ’ne Premiere ausfallen zu lassen, wäre ja ein Politikum gewesen. Und dann war Folgendes: Nicht nur die Sitzplätze – es fand im Sternfoyer der Volksbühne statt, die Premiere –, nicht nur die Sitze alle besetzt waren, sondern auch die ganzen Treppen waren noch besetzt…

Bahr: Nein!

 

00:03:06

Ensikat: …von lauter Leuten, die nun aufpassen sollten, dass hier die Konterrevolution nicht ausbrechen würde. So ernst wurde man damals im Kabarett noch genommen, oder im Theater. Das waren schöne Zeiten!

Bahr: Na ja, als ich den Film gesehen habe, habe ich mir gedacht: in einem Punkte hat es keinen Unterschied gegeben zwischen Ost und West: Die Uniformierten und die Vertreter der Streitkräfte haben mit gleichen Augen schönen Mädchen nachgeguckt.

Ensikat: Ja! Das ist auch das Beste, was sie tun können.

 

00:03:41

Bahr: 1966 begann die Große Koalition, die erste. Und ich begleitete Brandt nach Bonn. Er wurde Außenminister, ich wurde Planungschef. Meine erste Frage war: „Welche Überlegungen gibt’s zur deutschen Einheit?“ Ergebnis: Null! Weißes Papier, Schreibtische waren leer, Schubladen auch. Und bei der Frage an die Mitarbeiter: „Dann lasst uns doch mal anfangen. Was kann man überlegen?“, haben die gesagt: „Das dürfen wir gar nicht. Das ist gar nicht unsere Kompetenz. In allen ganze Deutschland und Berlin betreffenden Fragen haben die vier Mächte die oberste Gewalt, nach wie vor.“ Dann habe ich gesagt: „Dann lasst uns mal so tun, als könnten wir auf dem grünen Rasen beginnen und uns was überlegen, in Berücksichtigung unterhalb dieser fabelhaften Rechte.“ Das haben wir dann auch gemacht; das wurden dann, wurde dann die Ost- und Deutschlandpolitik, ein langes Papier. Und ein weiteres langes Papier über die Frage der Sicherheitsstrukturen, weil uns klar war: Deutschland wird nie in die Freiheit seiner Einheit entlassen werden, wenn unsere Nachbarn fürchten, anschließend stellen wir territoriale Ansprüche. Insofern war dann die Oder-Neiße-Linie und ihre Respektierung mit Polen eine stille Voraussetzung später für die deutsche Einheit.

00:05:23

Das war das Gebäude, mit dem man anfangen musste, um danach die Hardware zu machen. Also das war die Software. Wir haben es planiert, das Gelände, haben Beziehungen aufgenommen, unter Einschluss der DDR selbstverständlich. Das war auch das Neue, das war auch der Punkt, an dem die CDU die in die Luft gegangen ist, als der Brandt zum ersten Mal gesagt hat, dass die DDR ein Staat ist. Wenngleich nicht Ausland, na gut! Aber dann, nein, das war wirklich wichtig! Und zwar deshalb, weil ich dagegen war und gesagt habe: „Wir wissen, dass das rauskommt als Ergebnis. Aber als Vorleistung? Und da hat der Brandt gesagt: „Manchmal ist es gut, sein Herz am Anfang über die Hürde zu werfen.“ Und der Scheel, der dabei war, hat gesagt: „Wir sollten das so machen, wir der Herr Bundeskanzler das will.“ Und in der Tat war das, hab’ ich später erfahren, der Punkt, genau dieser Satz, durch den diese Leute in Moskau gesagt haben: „Es lohnt sich, mit denen zu reden. Wenn die es ernst meine, kann man wirklich etwas erreichen.“

 

00:06:31

Ensikat: Was für mich dabei das Neue war mit dieser Ostpolitik: Dass zum ersten Mal der Westen anerkannt hat, dass auch der Osten Interessen hat.

Bahr: Ja, natürlich!

Ensikat: Ja, aber das war vorher…

Bahr: Ja, aber wir sind doch nicht blöd. Also wir waren im Kalten Krieg, aber deshalb ist man ja noch nicht verpflichtet, dumm zu werden oder so.

Ensikat: Na ja, ich hatte schon den Eindruck…

Bahr: Das war doch selbstverständlich! Die Amerikaner haben doch russische Interessen respektiert und umgekehrt!

Ensikat: Ja, und wir haben sie respektiert, um den Status quo zu erhalten.

Bahr: Ja.

Ensikat: Aber nicht um weiterzukommen.

Bahr: Das ist wahr.

Ensikat: Und das war das Neue, für mich in der, in Ihrer Ostpolitik.

Bahr: Das wurde ja auch das Neue.

 

00:07:13

Filmeinspiel: Die Glatzkopfbande

 

00:07:42

Ensikat; Tja, mit so einem Film wie der Glatzkopfbande versuchte man eigentlich die schädlichen Einflüsse des Westens auf den Osten zu brandmarken. Und, ulkigerweise, es beruhte ja auf einem wirklichen Ereignis. Da hatten ein paar Jugendliche an der Ostsee Musik gemacht und hatten sich aus Quatsch die Glatzen geschoren. War aber völlig harmlos. Die armen Leute sind bloß… Dieser Fall geschah bloß kurz vor dem 13. August. Und als sie im Gefängnis saßen, wurde die Mauer gebaut. Und deshalb, da wollte man jetzt ein Exempel statuieren an diesen Jugendlichen. Und da hat man einen Film drüber gedreht, in dem man sagte, das wären eigentlich die schädlichen westlichen Einflüsse. Na, was man jetzt so gesehen und gehört hat. Dieser Film war trotzdem ein großer Publikumserfolg, was selten einem Propagandafilm gelang, weil nämlich, da wurde diese westliche Unkultur, nämlich diese westliche Musik gespielt, und die Jugendlichen rannten rein, um diese Musik zu sehen und diese schicken Lederjacken, die man dort hatte. Also der Film ist eigentlich in seiner Wirkung genau nach hinten losgegangen. Und das passierte ja nun in der DDR gar nicht so selten, nicht? Das war, also es war eigentlich so, wenn man im Neuen Deutschland eine Kritik an irgendeinem Film oder einem Theaterstück oder einem Buch gelesen hat, also, wenn die Kritik schlecht war, dann wusste man: Das Buch muss ich lesen, den Film muss ich sehen oder in das Theaterstück muss ich gehen. So hat, also es gibt… So ’ne Versuche, die Kultur oder die Kunst zu reglementieren, die gingen sehr oft nach hinten los. Einmal allerdings dann, also ’65, als das berühmte 13. Plenum der SED stattfand, da ging es der DDR wirtschaftlich mal wieder sehr schlecht – hatten Schwierigkeiten mit der Sowjetunion; das werden Sie ja besser wissen, was damals war – aber das hatte für die Kultur schreckliche Folgen. Da wurden also eine ganze Masse von DEFA-Filmen verboten und… Ich war damals am Theater der Freundschaft in Ostberlin. Bei uns wurde ein ganzer Spielplan gekippt.

 

00:09:47

Bahr: Ja, aber ein Stück! Aber einen ganzen Spielplan?

Ensikat: Doch, den ganzen Spielplan! Das war… Es wurde ja… Die ganze Jahresproduktion der DEFA zum Beispiel wurde ja auch verboten. Darunter ganz harmlose Filme.

Bahr: Nicht zu verstehen!

Ensikat: Ja, das ist, DDR ist auch selbst für einen, der es ja erlebt hat, oft überhaupt nicht zu verstehen. Ne, es war… Zum Beispiel, als diese Biermann-Ausweisung war, aber da gehen wir jetzt schon weiter vor, da wurde plötzlich überall verboten. Ich hab’ zu der Zeit gerade in Dresden an der Herkuleskeule ein Stück inszeniert, das hatte ich nicht geschrieben. Das war eine Parodie auf My fair Lady, in der ein Professor des Marxismus-Leninismus ein junges Mädchen die Parteisprache lehrt, also Partei-Chinesisch lehrt. Die Proben fanden während dieser Ausweisungsgeschichte statt. Plötzlich kam die Partei an und entdeckte feindliche Untiefen in dem Programm, die wir gar nicht gemeint hatten. Unter anderem ging es da um die Darstellung der Bauarbeiter als Faulenzer und Trinker. Und wir hatten da natürlich auch unsere Tricks. Also als diese Zensoren da kamen und sagten: „Also die Bauarbeiter werden euch von der Bühne jagen, wenn ihr das spielt.“ Und da hatte der Direktor der Herkuleskeule die wunderbare Idee, sagt er: „Dann laden wir doch mal unsere Patenbrigade ein“, das war ’ne Baubrigade, „laden wir sie doch mal ein zu ’ner Probe und die sollen mal gucken.“ Und das Ergebnis war dann, die Genossen waren dabei, die Bauarbeiter und wir. Die hatten das gesehen und hatten sehr gelacht schon in der Probe und haben danach gesagt, wir hätten wahnsinnig untertrieben. In Wirklichkeit wäre es viel schlimmer.

 

00:11:30

Bahr: lacht laut

Ensikat: Das war nun natürlich ein Mittel, da konnten die Genossen nichts mehr sagen. Also man hat schon auch mit Tricks gearbeitet. Zensur kann man immer betrügen.

Bahr: Aber ’ne Parodie auf My fair Lady müsste doch für die DDR abmildernd gewesen sein oder gewirkt haben?

Ensikat: Natürlich.

Bahr: Denn man kann darüber lächeln sogar, nicht?

Ensikat: Ja. Natürlich. Wir haben’s ja deshalb, wir ja im Kabarett eigentlich immer versucht, durch so ’ne Tricks es abzumildern.

Bahr: Ja.

Ensikat: Aber diese heimtückischen Zuschauer, die haben immer unsere wirkliche Absicht dahinter entdeckt. Wir hatten ja also in der DDR wirklich das intelligenteste Kabarettpublikum, und Theaterpublikum auch, das man sich nur wünschen kann.

 

00:12:06

Bahr: Also wir können jetzt darüber lachen. Damals war es gar nicht so zum Lachen, nicht?

Ensikat: Ne, es war oft wirklich nicht zum Lachen. Also gerade in den Sechzigerjahren, wenn ich an ’65 denke als die Spur der Steine zum Beispiel im Kino International aufgeführt wurde. Ich war da zufällig drin. Und plötzlich tauchten dort, ja, ganze Scharen von FDJlern in FDJ-Hemden auf und protestierten gegen diesen Film. Das ist natürlich, das ist dann ungemütlich. Oder was in Leipzig in der Pfeffermühle passiert ist: Plötzlich Kampfgruppen! In Uniform unten saßen und gegen dieses Kabarett da oben protestierten. Das war dann immer die ‚Stimme der Arbeiterklasse’! Honecker hat ja nie selber verboten. Er hat ja immer dann die…

Bahr…verbieten lassen.

Ensikat: …ja, also die Arbeiterklasse dann bemüht, nicht? Das waren dann die Eingaben, die an…

Bahr: Ja.

Ensikat: …die da gemacht wurden. Und das war also ’65 bis ’66/’67, das war so ’ne ganz schlimme Zeit, in der es eigentlich, ja, in der Kultur kaum was möglich war.

 

00:13:00

Bahr: Wie haben Sie denn die achtundsechziger Geschichten empfunden, erlebt?

Ensikat: Also, da muss man, glaube ich jetzt, wirklich trennen. ’68 ist für den Westen die Zeit der APO und die Zeit der…

Bahr: Ja, nicht nur APO.

Ensikat: …und die Zeit des Vietnamkrieges. Es ist… Ne, auch die, ja, im Grunde die Emanzipationsbewegung.

Bahr: Ja.

Ensikat: Ich hab’ die sehr positiv gesehen. Ich fand also, was da passiert, und ich finde, heute noch ist dieses ’68, was Sie vielleicht gar nicht als so schön empfunden haben immer, ist genau das, was uns im Osten fehlt. Diese Emanzipation, dieses Weg-von-Nach-oben-ducken. Ich glaube, dieses ’68 hat die Bundesrepublik sehr zum Vorteil verändert.

Bahr: Natürlich hat sie das verändert. Ist das übergeschwappt in die DDR?

Ensikat: Wenig, wenig. Für uns war es ja eher die Sache… Unsere Hoffnungen lagen in Prag, beim Prager Frühling. Da hofften wir: Das, das würde übergreifen auf uns. Und da diese, diese Hoffnung zunichte gemacht worden ist, war ’68 für uns eigentlich zum Ende ’ne einzige Depression. Es war also, das was im Westen an Emanzipation gelungen war, ist genau im Osten misslungen.

 

00:14:10

Bahr: Also ich muss sagen, ich hab’ das gar nicht so hautnah miterlebt. Ich war zu sehr beschäftigt da in meinem Planungsstab. Ich habe nur in den Zeitungen gelesen und natürlich auch wahrgenommen, dass die Studenten anfingen zu rebellieren. Und ich fand das wundervoll. Und zwar aus folgendem Grunde: Die Studentenrevolte hatte in Berkeley in Amerika begonnen und war über Paris gekommen. Und nun auch in Deutschland. Und zum ersten Mal waren die deutschen Jugendlichen mit den anderen großen westlichen demokratischen Jugendlichen auf einer Linie und auf einer Wellenlänge. Na, ist das nicht fabelhaft?

 

00:14:56

Ensikat Na das war bei uns der reine Neid, dass so was bei uns nicht möglich war. Also so ’ne Sache wie der Fritz Teufel, diese berühmte Geschichte, wenn’s denn der Wahrheitsfindung hilft, nicht? Dass er, wenn er aufsteht vor Gericht. Also es war, das wurde natürlich bei uns sehr wohl registriert. Aber eigentlich, das wirkliche Interesse, die wirkliche Hoffnung für uns lag in Prag.

Bahr: Also bei uns ja zum Teil auch. Ein Sozialismus mit menschlichem Antlitz…

Ensikat: Ja.

Bahr: …war schon eine dolle Sache. Und als das dann niedergeschlagen wurde, hatten wir natürlich Sympathien für Dubcek und seine Mitstreiter. Und haben gleichzeitig natürlich den anderen Teil wahrgenommen, nämlich, wir hatten doch einen BND, und der war nun nicht mehr angewiesen auf Spione oder, ihr habt gesagt: Kampf… Wie hießen die?

 

00:16:00

Ensikat: Unsere waren Kundschafter des Friedens.

Bahr: Kundschafter des Friedens.

Ensikat: Ja.

Bahr: Jawohl. Also, die westlichen Kundschafter des Friedens waren dann nicht mehr gefragt, sondern es waren Instrumente gefragt, Messungen gefragt, Funksignale aufzufangen und auswerten. Und da haben wir die Probe gehabt, dass wir die Funksignale der Streitkräfte, die daran beteiligt waren, so gut auffangen konnten und so rechtzeitig auffangen konnten, dass wir wussten, die Sache kann nicht zu einem Angriff gegen die Bundesrepublik benutzt werden. Die Sache ist wirklich auf die CSSR beschränkt. Und deshalb konnte die NATO ganz früh die Alarmstufen wieder runtersetzen und sagen: „Keine Sorge! Es passiert nichts. Uns passiert jedenfalls nichts.“

 

00:16:50

Ensikat: Na, das war ja das Schreckliche, eigentlich. Dieses, dass… Die Machtbereiche waren aufgeteilt und daran war nicht zu rütteln.

Bahr: Jeder sorgt für Ruhe in seinem Hühnerhof.

Ensikat Ja. Ja, ja. Ich glaub, es gab in den Sechzigerjahren eine Sache, die Ost und West gleichermaßen beschäftigte. Das war der Vietnamkrieg. Ich meine, im Westen waren es ja die Studenten und die jungen Leute, im Osten war es ja auch im Interesse der Partei, nicht? Entsprach es also durchaus auch der Linie der Partei, dass man gegen diesen Vietnamkrieg demonstrierte. Trotzdem war das einmal ein Punkt, wo wir freiwillig zu Demonstrationen gingen.

Bahr: Also, der Vietnamkrieg hat ungeheuer nervös gemacht, nicht nur, sondern auch empört.

Ensikat: Ja.

Bahr: Und zwar nicht nur junge Menschen sondern auch ältere. Was man da alles sehen konnte, was da alles angerichtet wurde mit nun wirklich asymmetrischer Kriegführung, nicht?

Ensikat: Ja.

 

00:17:54

Bahr: Von oben. Man konnte sich ja nicht wehren. Und entlauben der Bäume, ect. p.p. Und ich werde nicht vergessen, dass ich mit Brandt in Washington gewesen bin und unter anderem den damaligen Verteidigungsminister…

Ensikat: McNamara.

Bahr: … besucht habe. McNamara. Und der hat – im Pentagon –, der hat uns nun bewiesen, dass Amerika den Krieg gewinnen wird und gar nicht anders kann, als ihn zu gewinnen, und zwar mit Zahlen. Und als wir rausgingen, habe ich dem Brandt gesagt: „Das ist ungeheuer überzeugend.“ Und der sagte: „Ja, der hat nur eins vergessen: die Menschen.“

Ensikat: Ja.

Bahr: Das waren Affen. Die waren noch auf den Bäumen eigentlich, nicht? Das heißt, es ist eine ungeheuere Menschenverachtung, die Verachtung des menschlichen Faktors. Na gut. Und dann habe ich ein bisschen später den Brandt gefragt: „Sag mal, du hast keine einzige amerika-kritische Äußerung zu Vietnam von dir gegeben?“ Und darauf sagte er: „Ein Freund, der in Not ist, den schont man.“ Habe ich auch nicht vergessen! Die Amerikaner haben das auch übrigens auch Brandt nicht vergessen; seine Meinung war ganz anders als seine Nichtäußerungen natürlich.

 

00:19:28

Filmausschnitt: Sabine Kleist – 7 Jahre

 

00:20:06

Ensikat: Ich hatte ja schon erzählt, dass ich eigentlich Schauspieler nur aus lauter Hilflosigkeit geworden bin. Und ich hab’ mich auch in dem Beruf nie wirklich wohlgefühlt. Ich hab’ mich immer ein bisschen geschämt für das, was ich da spielte. Hatte natürlich auch damit zu tun, dass ich am Kindertheater war und da spielte man eben unter anderem auch mal Pinguine, Milchkannen und lauter so ein Zeug und das ist für einen Erwachsenen nun nicht unbedingt das Ziel. Für mich war immer, Kabarett war immer das Eigentliche, was ich machte. Aber es sind natürlich zwei Randerscheinungen in der Kultur, also Kindertheater und Kabarett gehörten nicht gerade zur Hochkultur. Aber ich habe schon, als ich mein erstes Engagement in Dresden am Kindertheater antrat, bin ich sofort zur Dresdener Herkuleskeule gegangen, hab’ sofort dort angefangen, für die Herkuleskeule zu schreiben und dann kam ich nach Berlin. Das war ja nun! In der DDR war natürlich Berlin war das Zentrum aller Wünsche. Also, wer in Berlin war, der ging nicht wieder weg. Aber ich merkte eben: Das ist nicht mein Beruf.

Bahr: Was? Schauspieler.

 

00:21:07

Ensikat: Schauspieler, ja. Das ist also überhaupt nicht… Und dann hab’ ich nach langem Zögern – ich war ja nun verheiratet, zwei Kinder und man muss ja irgendwie Geld verdienen – aber dann dachte ich irgendwann: Wenn ich jetzt bleibe an diesem Theater, ich war schon zehn Jahre da am Theater der Freundschaft, wenn ich jetzt noch länger bleibe, dann komm’ ich auch als Rentner noch mit der Thermosflasche her und werde ein Darstellungsbeamter. Und da hab’ ich einfach von einem Tag auf den anderen nein gesagt, und von dem Tage an ging es mir richtig gut. Da gelang es mir dann sogar auch vom Schreiben zu leben. Ich hab’ Kinderstücke geschrieben und Kabarett.

 

00:21:47

Bahr: Bei mir war das natürlich total anders und unvergleichbar. Also im Ergebnis der Arbeiten im Planungsstab waren wir fertig und haben, als die Wahl im Herbst ’69 das ermöglichte, sofort also mit der FDP, wie übrigens in der berühmten Elefantenrunde vorher schon angekündigt: „Wenn es denn geht, werden wir es versuchen“, gemacht. Und das bedeutete für mich als erstes noch im September oder Oktober ’69 nach Washington zu fahren, denn wir haben als Ersten Kissinger informiert. Der war damals Sicherheitsberater des Präsidenten Nixon. Bevor das in der Koalition besprochen, bevor das im Bundestag, bevor das veröffentlicht wurde, wurden die Amerikaner informiert über das, was wir vorhatten. Und Kissinger war sehr misstrauisch. Und er hat mir Löcher in den Bauch gefragt. Und: „Habt ihr das bedacht? Und das bedacht? Und was ist denn, wenn so…? Kann es sich vorstellen, wenn die Russen… wenn die Deutschen schon wieder anfangen, mit den Russen zu… Na wo kommen wir denn da hin?“ Bis es mir zu viel wurde und ich ihm gesagt habe: „Henry, ich bin nicht hierher gekommen, um zu konsultieren. Ich bin hierher gekommen, um zu informieren. Wir machen das. Wir haben uns das überlegt und werden es tun.“ Also ich hab’ ihn nicht überzeugt, aber ich habe ihm hoch angerechnet bis heute, dass er es hat geschehen lassen.

 

00:23:31

Ensikat: Aber misstrauisch war er.

Bahr: Natürlich war er misstrauisch. Ist er auch geblieben.

Ensikat: Ah ja. Ja.

Bahr: Misstrauisch war er. Sie haben es geschehen lassen, weil sie sich wahrscheinlich gedacht haben: Kann ja nichts passieren.

Ensikat: Ach so.

Bahr: Ist ja nicht gefährlich, kein Risiko. Hier ist die Power bei uns,. Die Russen wissen,…

Ensikat: Ja.

Bahr: …dass wir sie haben. Wir können das jeder Zeit bremsen. Lass die Verrückten doch mal mit der Idee von Gewaltverzicht probieren. Und als ich nach dem Moskauer Vertrag wieder nach Washington kam, kam er mir entgegen und sagte: „Das ist überhaupt noch nicht passiert in meiner Karriere, dass eine Regierung uns vorher sagt, was sie will, es dann auch tut und es dann sogar funktioniert. Und das war der Beginn einer sehr engen Zusammenarbeit, a); b) es war sogar ein Produkt dieses Besuches, dass er mir anbot ein Backchanel zu machen. Also einen verdeckten offiziösen Kanal zwischen dem Weißen Haus und dem Kanzleramt, Palais Schaumburg. Das habe ich natürlich sofort mit Kusshand angenommen. Was Besseres konnte uns gar nicht passieren, als mit Rückendeckung der Amerikaner – kurzschließen mit ihnen – vorgehen zu können. Und umgekehrt hat er natürlich

gedacht, er hat uns dadurch an der Leine, kann uns besser überwachen, alles in Ordnung.

 

00:24:58

Jedenfalls haben wir diese Idee des Backchanel aufgenommen. Ganz anders. Denn Brandt schrieb einen Brief an seinen Kollegen Kossygin, Vorsitzenden des Ministerrats, also Ministerpräsident, der reine Kollege, protokollarisch. Und bot an, eine vertraulichen Meinungsaustausch, die Bereitschaft dazu. Und dann hörten wir ’ne ganze Weile gar nichts. Und dann kam meine Sekretärin und sagte: „Also, ein sowjetischer Journalist möchte ein Interview mit Ihnen haben.“ Und da ich wusste, dass ich da nach Moskau fahren würde, nach dem Jahreswechsel, habe ich gesagt: „Ich will nicht.“ Und dann rief der Sprecher der Bundesregierung, Conny Ahlers an und sagte: „Du, ich hab’ dem das versprochen. Jetzt steht mein Ruf auf dem Spiel. Du musst!“ Daraufhin habe ich dann meiner Sekretärin gesagt: „Also, wenn die Schriebtische leer sind, am Nachmittag des Heiligen Abends, am 24. Dezember, dann geben wir dem ’ne halbe Stunde.“ Der kam auch an. Balancierte unruhig auf seinem Stuhl, stellte ’ne dumme Frage. Ich gab ’ne dumme Antwort. Er stellte noch ’ne dumme Frage und ich überlegte: Warum bist du nicht zu Hause, um den Weihnachtsbaum zu putzen? Und plötzlich wurde ich ganz elektrisiert, denn er bezog sich auf den Brief von Brandt an Kossygin.

 

00:26:31

Kein Zweifel, der kommt wirklich von oben und er hatte keine schriftliche, sondern nur eine mündliche Mitteilung, nämlich: „Die Antwort des Vorsitzenden des Ministerrates ist positiv, heißt: Ja. Aber bitte nichts unserer Botschaft sagen.“ Das heißt, das war das entsprechende, unter Ausschaltung der Apparate, einen direkten Kontakt verdeckt, aber zuverlässig. Wir werden…

Ensikat: Aber weil Sie gerade gesagt haben, mit dem Weihnachtsbaumschmücken. Bei so viel Weltpolitik, hat man da überhaupt ein Privatleben?

 

00:27:11

Bahr: Sehr reduziert, auf kleiner Flamme. Ich habe hinterher festgestellt, ’72, nach dem Ende der operativen Phase zwischen ’69 und ’72, dass ich, glaube ich, drei- oder vier Wochenenden überhaupt nur gehabt habe. Und ansonsten habe ich durchgearbeitet.

Ensikat: Ja.

Bahr: Und man kann das auch. Man ist unter einer solchen inneren Anspannung; das Adrenalin ist fabelhaft. ’73 plötzlich hatte ich keins mehr, fast keins mehr, wäre fast gestorben.

 

00:27:51

“ Und dann kam ich nach Moskau und man gab mir einen Zettel in die Hand, während ich das erste Ankunftsinterview für die ARD gab. Und da stand drin, die würden sich dann melden, telefonisch. Und dann ging ich ins Hotel „Ukraina“.

Ensikat: Das kenn’ ich auch.

Bahr: Ja?

Ensikat: Ja. Ist ein schönes…

Bahr: Auch den Geruch noch?

Ensikat: Ja, natürlich. (beide lachen) Die Reinigungsmittel!

Bahr: Ich war jetzt drin. Ist ganz anders.

Ensikat: Ja.

Bahr: Und riecht auch nicht mehr so. Na gut.

Ensikat: Schade.

 

00:28:18

Bahr: Egal. Und dann klingelt das Telefon. Der meldete sich. Dann ging ich runter. Wir wollten uns unten in der Lobby da treffen. Da ist auch ein Restaurant. Und dann wollte ich in eine Ecke gehen und dann nahm er mich an den Arm und sagte: „In keine Ecke und an keine Säule. Das wird abgehört.“ Und darauf war ich sehr beruhigt, weil ich gedacht habe: ‚Vom KGB kann der nicht kommen, denn der ist ja geradezu verpflichtet, alles abzuhören…’

Ensikat: Ja. Ja, ja.

Bahr: ‚… und zu wissen.’ So. Daraus hat sich ein Kanal ergeben, in dem wirklich fast ohne Prestigegesichtspunkte, fast ohne protokollarische Rücksichten in aller Offenheit gesagt werden konnte, was man will, was man nicht will, was man kann und was man nicht kann. Das war Gold wert. Das heißt, die haben nicht betrogen. Man konnte sich auf alles verlassen, was die gesagt haben.

 

00:29:19

Ensikat: Haben Sie jemals erfahren, was die für offizielle Positionen hatten?

Bahr: Ja, hinterher. Der Eine, Valeri, war wirklich stellvertretender Chefredakteur von Literaturnaja Gaseta.

Ensikat: Ah, ja.

Bahr: Und der Andere kam aus der Armee, war Obrist der Armee, war in Deutschland gewesen, konnte ganz gut deutsch, nicht wirklich perfekt. Aber wer kann das schon? Und war Andropow begegnet, der ihm gesagt hatte, er möchte eine neue Deutschlandpolitik, einen kleinen Arbeitsstab für ’ne neue Deutschlandpolitik überlegen. Und, der wollte nicht. Er wollte nicht zum KGB. Und dann hat der Andropow ihm gesagt: „Also, du brauchst nicht in den KGB. Es ist eine politische Sondergruppe. Du hast mit dem Apparat nichts zu tun.“ Der wollte immer noch nicht.

 

00:30:12

Ensikat: Aber das war zu der Zeit, als Andropow noch KGB-Chef war.

Bahr: Ja. Und dann hat der Andropow gesagt: „Ich mach’ dich zum General.“ Na, und dann wollte er. Das heißt, ich hatte, ohne es zu wissen, mit einem KGB-General geredet und freundschaftliche Beziehungen entwickelt. Wenn ich’s gewusst hätte, wär’s vielleicht nicht so schnell gegangen. Aber im Prinzip genauso gewesen. Der Schäuble hat ja auch nie gefragt, welchen Stasi-Rang der Schalck-Golodkowski hatte.

Ensikat: Ja.

Bahr: Das war ja alles völlig in Ordnung. Wir haben selbstverständlich von der Existenz dieses Kanals den Kissinger unterrichtet. Kissinger hat uns von seinem Backchanel nach Moskau unterrichtet und wir haben zu dritt gespielt. Ohne diesen Kanal oder das System der Kanäle wäre das Berlin-Abkommen nicht so zustande gekommen. Ohne diesen Kanal wäre vieles nicht erreicht worden, was erreicht worden ist…

 

00:31:16

Ensikat: Und wir dachten, Abrassimow war es. Weil, der hat doch gesagt: „Ende gut, alles gut.“

Bahr: Ja, das war das Einzige. Der war der einzige wirkliche substantielle Beitrag von Abrassimow. Der hat gar nichts… Der musste das durchführen, was wir in Bonn uns ausgedacht hatten.

Ensikat: Es gab mal die Frage in der DDR: „Braucht die DDR Kabarett? Schließlich hat die große Sowjetunion auch kein Kabarett.“

Bahr: Das ist ja schon ein Witz, die Frage!

Ensikat: Ja, ja. Aber wurde ernsthaft gestellt. Und wurde dann, na ja, mal so, mal so beantwortet, nicht? Es war ja, weil … Das war ja auch das Ulkige beim Kabarett in der DDR: Kabaretts wurden ja vom Staat bezahlt. Das waren ja so ’ne Art kleine Stadttheater. Es konnte passieren, dass ein Kabarett verboten war, ein Programm verboten war, aber alle, die dort angestellt waren, wurden weiterbezahlt. Man konnte in der DDR richtig Satire-Beamter werden, nicht? Also, man konnte verboten sein und trotzdem bekam man sein Gehalt weiter.

 

00:32:19

Bahr: Ja, das ist ja bei Beamten immer der Fall.

Ensikat: Ja, natürlich, also …

Bahr: Selbst wenn er nichts tut, wird er bezahlt.

Ensikat: Ja, insofern …

Bahr: Ich will die Beamten nicht beleidigen.

Ensikat: Ja. Um Gottes Willen! Sonst treten sie in Streik und keiner merkt es.

Bahr: Na eben. (beide lachen) Ist ja noch schlimmer.

Ensikat: Ja, es gab in der DDR eine Organisation, die hieß Deutsch-Sowjetische Freundschaft.

Bahr: Meine Tante war da auch drin. Weil sie gesagt hat: „Erstens kostet das nichts. Und zweitens ist das am harmlosesten und man kann schöne Reisen machen.“

Ensikat: Ja, na, es ist ja auch völlig harmlos gewesen. Natürlich! Es war überhaupt nichts Ernsthaftes. Aber Beitrag musste man bezahlen.

Bahr: Na, ja gut. Einen kleinen Beitrag.

Ensikat: Ich … Also, es waren 50 Pfennig oder so was.

Bahr: Ja, ja.

Ensikat: Ich weiß es nicht. Ich war … Ich bin da nicht eingetreten, weil ich gesagt habe: „Wenn man dafür eine Organisation braucht, um die Freundschaft!“ Ich bin natürlich Freund der Sowjetunion. Wieso denn nicht? Ich bin Freund aller Völker dieser Erde und ich finde, das zeigt ja nur, dass da was nicht stimmt, wenn man da … Aber es wurde dann akzeptiert. Ich musste also dann, musste ja sowieso nicht rein. Also! Wird ja immer gesagt: „Man musste!“ Man konnte es schon noch selbst entscheiden, ob irgendwo eingetreten ist.

 

00:33:26

Bahr: Meine Tante ist freiwillig gegangen, aus dem genannten Grunde.

Ensikat: Ja, natürlich. Ist ja auch nichts Schlimmes gewesen.

Bahr: Nein. Sie hat gefragt, ob ich das für schlimm halte. Hab’ ich gesagt: „Nein.“

Ensikat: Nein.

Bahr: Dann gab’s Gänsebraten. Ich habe gesagt: „Na, das war doch nicht nötig.“ Sagt sie: „Glaubst du auch, dass wir hier nichts zu essen haben?“

Ensikat: Na es war eigentlich, die DSF war eher was Komisches, also. Wir machten natürlich darüber im Kabarett auch unsere Witze. Man durfte ja auch die, man sollte ja die Russen auch nicht mehr Russen nennen, sondern es waren ja Sowjetmenschen.

Bahr: Jawohl.

Ensikat: Und wenn wir dann im Kabarett sagten: „Aber ein paar Russen müssen ja drunter sein“, dann war das schon ein Politikum. Weil, der große Bruder – das gehörte mit zu den Tabus im Kabarett – also, der große Bruder durfte aber auch nicht im Geringsten auch nur ironisch behandelt werden. Ich weiß noch, da gab’s mal in einer Nummer in der Distel mal: Lärmen, lärmen, nochmals lärmen. Also von Lenin gab’s ja dieses „Lernen, lernen, nochmals lernen.“

 

00:34:21

Bahr: Ja. Ja, ja.

Ensikat: Da ist die Botschaft eingeschritten und hat das untersagen lassen.

Bahr: Nein!

Ensikat: Die sowjetische Botschaft! Ja! Also, so wurde es uns auf jeden Fall mitgeteilt. Also, Zensur konnte bei uns jeder ausüben. Auch der sowjetische Botschafter.

 

00:34:33

Filmausschnitt: Walter Ulbricht Geburtstag

 

00:34:54

Ensikat: 1971 war ich noch Schauspieler am Theater der Freundschaft, also am Kindertheater in Ostberlin, und wir probierten gerade Die verzauberten Brüder von Jewgeni Schwarz. Und da wurde plötzlich das gesamte Ensemble auf die Bühne gerufen; es gäbe eine außerordentliche Meldung. Und dann kam – wir versammelten uns da auf der Bühne in der Märchendekoration –, und die Parteisekretärin des Theaters kam, um uns zu verkünden, dass der Genosse Ulbricht um seine Ablösung gebeten hätte. Und der Genosse Honecker würde seinen Platz einnehmen. Aber es sei im Grunde überhaupt nichts geschehen. Also sie rief uns alle zusammen, um uns zu sagen, es ist nichts passiert. Es geht alles weiter. Die klare Linie der Partei sei nicht bedroht. Wir haben uns über die klare Linie der Partei überhaupt keine Gedanken gemacht und hatten ja schon lange vorher … Wochen vorher, Monate vorher waren ja im Westfernsehen Vermutungen angestellt worden, wer denn der Nachfolger würde. Und alles lief natürlich auf Honecker, war auf Honecker hinausgelaufen.

 

00:36:00

Bahr: Als ich hörte, Honecker hat Ulbricht ersetzt, war die erste Überlegung: Na ja, also schlimmer kann’s ja nicht werden.

Ensikat: Im Kabarett kamen die führenden Persönlichkeiten der DDR nicht vor. Also für uns im Kabarett bedeutete der Wechsel von Ulbricht zu Honecker so gut wie nichts, da wir beide nicht nennen konnten. Wir haben zwar… Das war ein beliebtes Mittel natürlich, den Ulbricht nachzumachen oder überhaupt, wenn ein Parteisekretär auf der Kabarettbühne auftrat, sprach er immer Sächsisch und war damit schon denunziert. Das funktionierte komischerweise auch in Sachsen. Und dann war es vielleicht ein Wechsel im Dialekt. Wenn man jetzt den Honecker leicht nachmachte, ohne natürlich seinen Namen zu nennen, dann hat das auch ’ne gewisse komische Wirkung. Aber eigentlich hatte so ein Wechsel der Personen … Das waren ja für uns reine Funktionsträger. Als Personen traten sie kaum in Erscheinung.

 

00:37:00

Bahr: Also für mich waren die Verhandlungen über den Grundlagenvertrag, die sich ja dann anschlossen, das erste Mal, dass ich Honecker begegnet bin, also, von ihm empfangen wurde. Und bevor das war, habe ich Herbert Wehner gefragt. Denn der kannte ihn ja aus dem Saarland. Und das Interessante war und für mich wirklich Maßgebende war, die Charakterisierung Honeckers durch Wehner: ‚An dessen Händen klebt kein Blut.’ Das heißt, was immer da sonst ist, das ist kein unanständiger Mensch.

Ensikat: Das war auch für uns etwas ganz Wichtiges: Der Mann hatte im Gefängnis gesessen. Der hatte was für seine Überzeugung auf sich genommen. Und das hielt uns eben auch davon ab, also, leichtfertig über ihm zu urteilen. Diese Generation hatte eben für ihre Überzeugung noch etwas opfern müssen.

 

00:38:18

Bahr: Ja, ja.

Ensikat: Und er hat ja zwölf Jahre wohl in Brandenburg gesessen.

Bahr: Ich kann über diese Zeit nicht sprechen, ohne Michael Kohl zu erwähnen. Das war nun ein Produkt der DDR: hochintelligent, ein Funktionär, sehr befangen, verkrampft. Als wir uns das erste Mal in Bonn gesehen haben und … Also ich habe damals gesagt und wiederhole das gerne: „Gegen den war Gromyko ein Playboy.“ Ich habe lange Zeit gebraucht, bis ich so warm wurde mit ihm, dass man sich einen Witz erzählen konnte, …

Ensikat: Ja.

Bahr: … er wenigstens das Gesicht dabei verzog. Später haben wir dann gelacht. Das heißt, wir sind in zwei Jahren ungewöhnlich enger Zusammenarbeit fast jede Woche, oder mindestens alle 14 Tage, mehrere Tage zusammen gewesen und haben dann gesprochen natürlich. Nachdem ich die Nierensteine seiner Frau schon kannte, mussten wir auch mal über was anderes sprechen. Und dann habe ich ihm eines Tages gesagt: „Der Kommunismus ist zum Untergang verurteilt.“ Das fand er unerhört. Und ich hab’ ihm gesagt: „Das kann ich sogar beweisen.“ Das wollte er wissen. Ich sage: „Wenn ich Thukydides, Sophokles, und wie die alten Jungs alle hießen der ollen Griechen, heute noch verstehen kann, heißt das, dass sich die Menschen nicht verändert haben in ihrer Grundsubstanz. Liebe, Macht, Reichtum, Einfluss. Und wenn das über 2 000 Jahre so ist, dann kann ich nur sagen, haben Sie keinen großen Erfolg gehabt, die Menschen umzuwandeln und einen neuen Menschen zu machen, also seit 1917 jedenfalls. Dass die Arbeit das Höchste und Beste und Schönste im Inhalt des menschlichen Lebens sei, ist noch nicht geglückt. Wenn ich mich darin irren sollte, dann werden wir uns in 500 Jahren mal zusammen setzen, werde ich mich entschuldigen.“

 

00:40:49

Ensikat: Ja, es gab da bei uns diesen Witz: Unterschied zwischen Kapitalismus und Sozialismus? Im Kapitalismus beutet der Mensch den Menschen aus; im Sozialismus ist es umgekehrt.

Bahr: Das wussten wir auch. Nein aber …

Ensikat: Aber der Michael Kohl, der war doch auch in einer wahnsinnig schwierigen Situation! Wenn ich mir überlege: Bei uns, also unter den Funktionären, galt doch eine so strenge Sprachregelung. Und davon nur im Geringsten abzuweichen, das konnte ja schon das Amt kosten.

Bahr: Ja, also wir haben uns manchmal gerettet, oder öfter gerettet, in Vier-Augen-Gespräche. Wobei ich immer wusste, wenn ich …

Ensikat: Aber wussten die vier Augen, ob nicht noch ein Ohr dabei ist, dass …?

Bahr: Ja, wenn es in Ostberlin war, war immer ein Ohr dabei. Das war völlig klar. Aber wichtige Sachen haben wir dann eben in Bonn besprochen. In der …

Ensikat: Da war kein Ohr?

Bahr: Nein, da war kein Ohr. Ich erzähle jetzt mal ein Geheimnis.

Ensikat: Ja.

 

00:41:47

Bahr: Ich hab’ unseren Dienst gefragt, ob er das Hotel, in dem wir den Kohl und seine Delegation untergebracht haben, so technisiert verkabeln könnte, dass man da hören kann, was die sagen. Und dann haben die mir erklärt nach 24 Stunden: Nein, das könnten sie nicht. Das heißt, wir haben dann unsere Genugtuung daraus gewonnen, dass wir sicher dachten, dass die DDR-Leute dachten, hier werden sie sicher abgehört. Aber sie wurden gar nicht abgehört.

Ensikat: Das war der besondere Trick.

Bahr: Ja. So gut waren unsere Dienste. So.

Grimm: Damit müssen wir beenden heute.

Bahr: Jawohl.

Grimm: Ich bedanke mich bei den Herren.

Bahr: Bitte sehr.

 

 

 

3. Teil

Über die Begegnung zwischen Brandt und Stoph in Erfurt, den Versuch der DKP, in Kassel Sprechchöre für Willi Stoph zu organisieren. Über den Grundlagenvertrag, die Konferenz in Helsinki, die Beschlüsse der KSZE, Grenzformel und Menschenrechte und die Wirkung auf Osteuropa. Über die Guillaume-Affäre, über Guillaume in der DDR, die Rolle der Medien in der Politik, die Vorgeschichte in Norwegen, das Verhältnis von Brandt und Wehner, von Honecker und Wehner, Wehners Rolle als graue Eminenz der SPD, seine Angst in die DDR zu fahren, seine Bedeutung für die SPD, Godesberger Programm, Beziehung zu Honecker für humanitäre Hilfe. Über die Entschuldigung von Markus Wolf an Brandt wegen der Guillaume-Affäre. Über Ulbrichts Sturz, Honeckers neuen Kurs, einen Sozialstaat aufzubauen, der nicht bezahlbar war. Über die wirtschaftlichen Probleme in der Bundesrepublik in den siebziger Jahren, den Palast der Republik, über Wolf Biermann und die Folgen der Ausbürgerung 1976.

 

Transkript

Filmeinspiel: DEFA-Augenzeuge 13/70/3

00:00:43

Bahr: Als die Begegnung zwischen Brandt und Stoph in Erfurt vereinbart wurde, haben wir beschlossen, dass ich an diesem Tage in Moskau sein würde. Ich hab’ das also gar nicht gesehen.

Ensikat: Aber im Fernsehen.

Bahr: Ja, im Fernsehen dann, aber nicht original. Weil, wir waren der Auffassung, wir wollten sichern, dass die Leute in Moskau so schnell wie möglich, jedenfalls schneller als die DDR es kann, so korrekt wie möglich informiert wurden.

Ensikat: Ah ja.

 

00:01:28

Bahr: Und nicht erst über Ulbricht. Und das funktionierte auch. Herr Sahm war dann extra abgestellt von …

Ensikat: Der Botschafter in …

Bahr: … Erfut, dafür zu sorgen, dass ich das bekam. Funktionierte auch. Mit dem Ergebnis, dass die Moskowiter in der Tat schneller und genauer informiert wurden, als durch die DDR und dadurch ein Misstrauen in Moskau entstand, weil einer meiner Gesprächspartner mir sagte: „Was immer man über die DDR sagen kann, eins können sie, wenn sie wollen: Sie können Absperrungen machen.“

Ensikat: Aber das ist doch in Erfurt gerade nicht gelungen!

Bahr: Und dass das durchbrochen worden ist in Erfurt und die auch dann noch „Willy“ gerufen haben, ohne, dass man wusste, meinten die den mit Ypsilon der den mit I …

Ensikat: Also, die DDR dort, wir wussten, welcher Willy gemeint war.

Bahr: Ja natürlich. Wir wussten das auch. Ja. Nein, aber das war ein Stück Misstrauen und es hat auch eine ungeheure Wirkung gehabt: Also es ist nichts passiert.Wir wussten alle, dass nichts passieren kann, solange wir in Moskau nicht fertig waren, konnte in Erfurt auf der deutschen Ebene überhaupt nichts passieren. Und …

 

00:02:53

Ensikat: Das sahen wir natürlich gar nicht so. Für uns war etwas passiert, damit, dass Willy Brandt und Willi Stoph sich dort trafen. Da war für uns vieles, das … Man sieht’s im Fernsehen anders, oder direkt, als wenn man die Strippen zieht.

Bahr: Sie haben Recht. Die wirkliche große, riesige Bedeutung war, dass die ganze Welt gesehen hat: Wenn die Deutschen könnten wie sie wollten, gibt es die deutsche Einheit. Das war das Ergebnis, das durch die Bilder in die ganze Welt ausgestrahlt worden ist. Und das ist auch durch Kassel, wo man sich auf westdeutscher Seite eigentlich zu schämen hat, nicht mehr geändert worden.

Ensikat: Ja, also wir haben das, also Kassel haben wir mit gewisser Häme beobachtet, wie da die DKP versuchte, nun auch Sprechchöre für den anderen Willi zu organisieren und wie jämmerlich das doch ausgegangen ist. Das war uns, das war uns klar, dass es so… Also, wir machten darüber nur Witze, wie Willi in, Willi Stoph jetzt in Kassel jetzt von Herbert Mies empfangen wurde eigentlich.

Bahr: Ja, aber, ich kann nur sagen, Brandt hat sich geschämt, dafür, dass man nicht die Ordnung aufrecht erhalten konnte in Kassel.

Ensikat: Ja …

Bahr: War nicht in Ordnung.

 

00:04:13

Ensikat: Ja, sicher. Das ging uns ja eigentlich immer so, wenn wir als Theaterleute jetzt… Da ich im Kindertheater war, hatten wir ja viele Gastspiele im Westen. Und da gab es immer einen Punkt in den Diskussionen mit westdeutschen Bekannten oder, oder Leuten, die wir zufällig kennen lernten, wo wir anfingen, die DDR zu verteidigen. Der Punkt trat also ganz regelmäßig ein, nämlich wenn diese DDR als Diktatur mit der Nazi-Zeit verglichen wurde. Also diese Urteile über die DDR, dieses Klischee über die DDR: Reich des Bösen, und was auch immer. Das hat sich ja bis heute nicht verändert. Das hat uns dann immer dazu gebracht, dass wir etwas verteidigt haben, was, über was wir zu Hause nur geschimpft haben. Es gibt, mir ist unvergesslich: Wir fuhren mal zurück von so einem Gastspiel, wo wir auch – ich glaube, es war in Heidelberg – und wir fahren zurück, nachts, mit dem Zug, sitzen da zweiter Klasse im Abteil und der Zug fährt ganz ruhig. Und plötzlich fängt es an zu holpern. Wissen wir also: DDR: Und da macht, schlug ein Kollege die Augen auf und sagte: „So, jetzt können wir wieder meckern.“

Bahr: Das ist toll.

 

00:05:26

Bahr: Als wir den Grundlagenvertrag hinter uns hatten, konnte nun wirklich die große Konferenz passieren, über die die Sowjetunion sich lange bemüht hatte, in Helsinki. Und ich muss sagen: Helsinki war ein Wunder. In Helsinki war nämlich etwas passiert, was man sich gar nicht hatte vorstellen können. Dass nun die Regierungschefs der 35 Länder nebeneinander saßen und etwas beschlossen haben, was kein Vertrag wurde, nie ratifiziert worden ist aber trotzdem unglaubliche Wirkungen entfaltete, weil alle daran interessiert waren dass Europa nun so stabil blieb, wie es geteilt war. Und der Hauptpunkt war natürlich für die Sowjetunion: die Sicherheitsfragen mit den Grenzen. Ein Nebenpunkt war selbstverständlich, war gar nicht so wichtig, der ‚zweite Korb’ hieß das damals, die wirtschaftliche Zusammenarbeit und die Entwicklung. Und für den Westen war der Hauptkorb der drei: nämlich, die menschlichen Erleichterungen.

 

00:06:51

Ensikat: Für uns auch. Das war, als das veröffentlicht wurde, meines Wissens nur im Neuen Deutschland in der DDR, da war das Neue Deutschland ausverkauft. Ich glaube, das ist dem Neuen Deutschland sonst nie passiert. Aber es wurde ja mit diesem … Mit diesem bewussten ‚Korb drei’ argumentierte man ja dann.

Bahr: Es war nicht nur das Neue Deutschland. Es war natürlich in allen Parteizeitungen, in allen Ländern des Blocks.

Ensikat: Ja.

Bahr: Oder des sozialistischen Lagers. Das heißt, die Menschen konnten sich darauf berufen. Es war auch von uns her jedenfalls gedacht als eine Möglichkeit, den Menschen in Ostdeutschland und in Osteuropa ein bisschen mehr Luft zu verschaffen. Das Dolle war, ein Ergebnis auch, das Wort Dissident kam aus der Kirchengeschichte und hieß: ein Abweichler. Und es wurde gleichbedeutend mit einem politischen Abweichler oder selbständig Denkenden. Und es war auch ein Punkt, wo die Sowjetunion akzeptiert hat, dass Amerika mit am Tisch saß. Das heißt, akzeptiert hatte, dass man wichtige Sachen in Europa nicht ohne und gegen die Amerikaner machen konnte. Das Wort „Ami, go home!“ verschwand als Propaganda-Slogan seit Helsinki aus dem Gebrauch. Und der inhaltliche Kern von Helsinki war die Grenzformel. Die war wörtlich aus dem Moskauer Vertrag übernommen worden. Das heißt, Grenze nur im gegenseitigen Einvernehmen veränderbar. Und diese Formel wiederum ist wörtlich übernommen worden in die Charta von Paris 1990, als Grundgesetz der europäischen Stabilität. Haben wir in Deutschland gar nicht zur Kenntnis genommen, weil wir gerade mit der deutschen Einheit beschäftigt waren.

Ensikat. Ja.

 

00:08:53

Filmeinspiel: For eyes only

 

00:09:34

Bahr: Ich kam mit Brandt aus Ägypten zurück. Und als wir landeten in Köln-Wahn sahen wir da viele Menschen, also ’ne große Versammlung. Und der Brandt sagte noch: „Also, so erfolgreich war die Reise nicht, um so einen Bahnhof zu kriegen.“ Wir stiegen aus, und der Innenminister Genscher nahm den Kanzler beiseite. Und der Chef des Kanzleramtes nahm mich beiseite und wir bekamen beide mitgeteilt: „Heute früh ist Guillaume verhaftet worden.“ Mein erster Gedanke, ich hatte doch einen Zettel geschrieben, weil der Chef des Kanzleramtes, Herr Ehmke, mich gefragt hatte: „Ich soll den einstellen?“ Weil rechte Sozialdemokraten, also Ehrenberg und Leber den empfohlen hatten, weil der so ein braver Rechter in Frankfurt gewesen war. Aber der käme aus der DDR. Und ich hab’ mir das dann angesehen, die Akte und habe ihm einen Zettel geschrieben und gesagt: „Es kann ja sein, dass man dem Mann Unrecht tut. Aber das Kanzleramt ist zu empfindlich. Ich würde empfehlen, überall, aber nicht Kanzleramt.“ Dann hatte ich nichts mehr gehört. Und eines Tages tauchte Guillaume auf in meinem Büro, stellte sich da vor und ich fragte den Ehmke: „Was ist denn los? Hast du nicht meinen Zettel gelesen?“ Er sagt: „Doch. Wir haben den Mann durch die Mühlen gedreht, wie noch nie einer gedreht worden ist. Ergebnis: Es gibt keinen Grund, ihn nicht einzustellen. Nun ist er da.“ Der kam, Gott sei Dank, zwei Tage oder drei Tage, bevor wir den Grundlagenvertrag paraphierten. Geheimnisverrat konnte da nicht mehr sein.

 

00:11:31

Ensikat: Ja.

Bahr: Aber …

Ensikat: Aber trotzdem, für uns war das ein ungeheuerer Schock, dass ausgerechnet Brandt, dem wir diese Ostpolitik verdankten, über einen DDR-Spion stolpern sollte. Also, dass er dadurch gestürzt werden sollte, das … Es war … Also ich hab’ von ganz vielen Freunden wirklich wörtlich gehört: „Ich schäme mich.“

Bahr: Also, bei uns war die Wirkung natürlich ähnlich, aber doch seitenverkehrt. Ich habe erklärt: „Ich hoffe, wir haben auch so einen guten Spion.“ Dann würden wir ja nicht gezögert haben, ihn zu haben. Aber wir hatten ihn nicht. Und der andere Punkt war: Es war ja ein an sich nicht unsympathischer Mensch. Er war nur … Es stieß ein bisschen ab. Er war so wuselig und so begierig zu helfen und … Also, sympathisch…

Ensikat: Sich unentbehrlich zu machen, nicht?

 

00:12:41

Bahr: Ja. Sympathisch, besonders sympathisch war der nicht und … Aber niemand hat geahnt, dass das innerhalb relativ kurzer Zeit zum Rücktritt von Brandt führen würde. Ich war dabei wie der Vizekanzler Scheel gesagt hat: „Herr Bundeskanzler, Spion, das reiten wir auf einer Backe ab.“ Aber die andere Backe fehlte, denn kein Kanzler kann ohne die Rückendeckung seiner Fraktion sicher sein. Und die Rückendeckung, so uneingeschränkt wie Scheel sie ausgesprochen hatte, durch Wehner fehlte eben. Und das war der Punkt, wo Brandt und Wehner unter vier Augen gesprochen haben, und es gibt keine Aufzeichnung darüber. Es gibt nur das, was der hinterher gesagt hat. Und der Eindruck von Brandt war eben: Ich kann mich auf Wehner nicht verlassen.

Ensikat: Ja, das war … Kurz vorher war doch diese Geschichte, wo Wehner in Moskau war und wo er diese …

Bahr: Das war Monate vorher gewesen.

 

00:13:57

Ensikat: Aber es zeichnete sich da doch schon ab, dass Brandt sich auf Wehner wirklich nicht verlassen konnte. Ich meine, wenn jemand in Moskau erklärt: „Der Herr badet gern lauwarm“, dann ist das ein Affront, finde ich das.

Bahr: Also Brandt hat sehr gezögert, ob er es nicht zu einem Bruch kommen lassen müsste oder erzwingen müsste. Und ich kann nur nachträglich sagen: Bedauerlicherweise hat er das nicht getan.

Ensikat: Ja.

Bahr: Meiner Auffassung nach habe ich ihm einen falschen Rat gegeben. Ich hab’ ihm gesagt: „Jetzt haben wir Wichtigeres zu tun. Du setzt dich durch, aber es ist ein Riss dann in der Partei.“ Und der Wehner war auch pflaumenweich und hat dem Brandt gesagt: „Lass es uns doch noch mal versuchen.“ Und das passierte dann auch. Und als es soweit war, habe ich genau gewusst: Das ist das Ende einer Ära. Und habe trotzdem dem Brandt den Rat gegeben zurückzutreten. Das war, glaube ich, der richtige Rat in diesem Falle, denn ich wollte nicht, dass der Freund beschädigt wird. Weil er von den Gremien und von der Presse und den Medien gejagt worden wäre. Und er wäre nach vier oder sechs Wochen zerstört worden. So hatte er das Gesetz des Handelns noch in der Hand und die Chance, sich zu erholen.

 

00:15:44

Ensikat: Eine furchtbare Rolle, die die Medien immer mal wieder spielen. Sie schreiben erst einen ganz hoch, um ihn dann von möglichst hohem Punkt wieder fallen lassen zu können. Wir haben ja was Ähnliches mit Schröder eigentlich erlebt vor der letzten Bundestagswahl jetzt.

Bahr: Wir werden das immer wieder erleben. Die Medien haben in dieser Gesellschaft eben eine Rolle, durch die sie Menschen, einfach nicht mehr berichten, sondern Menschen kaputt machen können.

Ensikat: Ja.

Bahr: Aber auch Menschen hochjubeln können, ganz genauso. Und die interessante Neuigkeit oder der Neuigkeitswert entscheidet dann. Dann hat man immer wieder was zu schreiben.

Ensikat: Ich hab’ mal aufgeschrieben: Journalisten sind Leute, die sich für wichtig halten, weil sie über Leute schreiben, die sich für wichtig halten, weil Journalisten über sie schreiben. Ich glaube, das ist auch so ein Kreislauf, nicht? Also die meisten Politiker benutzen ja auch die Medien. Es ist ja nicht so, dass die Medien nun die Bösen wären und die Politiker die Guten.

Bahr: Nein, natürlich werden sie auch benutzt. Beide benutzen sich, nicht?

Ensikat: Ja, ja..

 

00:16:50

Bahr: Aber das hat keinen Zweck.

Ensikat: Gut.

Bahr: Also, ich meine auch gegenseitig sich anzumeckern darüber …

Ensikat: Das bringt nichts.

Bahr: Hat überhaupt keinen Sinn. Das ist …

 

00:17:00

Ensikat: Aber, um noch mal auf Guillaume zurückzukommen. Ich war ja 1978 in eine Gegend gezogen in Berlin, die ich vorher nicht kannte. Es ist so, als Berliner kennt man seinen Kiez und das …, nämlich nach Hohenschönhausen. Und ich hatte ein altes Haus gekauft und brauchte dafür viel Baumaterialien, die ich natürlich nicht bekam oder nur sehr schwer bekam. Und da war ganz in der Nähe, in der Parallelestraße, eine Baustelle. Da war alles da. Die war eingezäunt, diese Baustelle. Und alle Leute sagten rings rum, Guillaume war gerade wieder freigelassen, alle sagten: „Das ist das Haus für Guillaume, das hier gebaut wird.“ Da waren also diese Kupferdachrinnen und Klinker, all das, was in der DDR ganz schwer zu haben war. Ich ging da sehr neidisch, sehr oft vorbei. Und dann stellte sich aber raus: Das war nicht das Haus für Guillaume, sondern das war das Haus für Schalck-Golodkowski, den damals kein Mensch kannte. Also …

Bahr: Ja, ja.

Ensikat: … also von der normalen Bevölkerung, nicht?

Bahr: Ja.

 

00:18:00

Ensikat: Das stellte sich dann erst 1989 raus, dass da Schalck-Golodkowski das Haus gebaut hatte.

Bahr: Also, ich habe an Guillaume noch eine andere Erinnerung, nämlich durch eine unglaubliche Geschichte. Er ist ja beobachtet worden und ich finde es auch heute noch unglaublich und nicht zu verantworten, dass unsere Dienste den Bundeskanzler als Lockvogel benutzt haben, um vielleicht einen Spion zu entlarven. Also wie auch, dem auch sei, der war in Norwegen und hat dort natürlich auch entgegengenommen die Telegramme, die der Bundeskanzler zur Information bekam. Darunter eins von Nixon und eins von der NATO. War interessant genug, um den Guillaume zu veranlassen, seinen Kurier zu bestellen mit einem Koffer, mit diesen Dokumenten sich von der Gruppe zu trennen, dem das Köfferchen zu geben und ein anderes Köfferchen, gleicher Art natürlich, wieder an sich zu nehmen. Und als er verhaftet worden war, wurde in dem Gericht festgestellt, welche Akten welchen Geheimnisgrades da drin waren. Was aber nicht festgestellt worden war, dass dieser Bote die Angst hatte, er wird beobachtet oder überwacht. Und aus Angst hat er dieses Köfferchen in den Rhein geschmissen. Das heißt, die Dokumente sind gar nicht in Ostberlin angekommen, aber Ostberlin erfuhr durch die Verlesung der Dokumente im Gericht, welche Geheimnisse da drin waren. Das heißt, der eigentliche Geheimnisverrat war durch das Gericht passiert. So sind die Dienste!

 

00:20:12

Bahr: Als der Rücktritt vollzogen war – Brandt hatte seinen Brief an den Bundespräsidenten abgeschickt –,haben wir, Brandt, Wehner und ich, zusammen gesessen in dem Amtszimmer von Brandt und der sagte: „Geht doch schon mal rüber in die Fraktion. Ich komme gleich nach.“ Und Wehner und ich gingen nebeneinander rüber in den Bundestag und er sagte plötzlich: „Jetzt müssen wir aber zusammenrücken und ganz eng zusammenarbeiten. Das war für mich, nach allem, was gewesen war, als ob ich in einen Abgrund blickte. Dann habe ich mich hingesetzt und dann kam ein bisschen später Brandt rein. Und der Wehner hatte einen großen Strauß liegen, wahrscheinlich Rosen, weiß ich nicht mehr. Und brüllte in den Saal: „Wir alle lieben ihn!“ Und das Wort Liebe aus diesem Anlass, aus diesem Mund ausgesprochen, war für mich so schrecklich.

Ensikat: Hm.

Bahr: Unerträglich, dass ich meine Tränen nicht zurückhalten konnte. Vielleicht hätte ich es geschafft, wenn ich gewusst hätte, dass eine Kamera auf mich gerichtet ist. Aber das wusste ich nicht. Aber das war mit das Schlimmste, denn manche Leute haben gedacht, ich hätte geweint, weil der Brandt nun zurücktritt. Das war ja alles längst klar. Das war innerlich auch schon verarbeitet, aber – das war zu viel.

 

00:22:15

Bahr: Die Frage, warum Wehner diese Einstellung gegenüber Brandt hatte, haben wir uns natürlich auch gestellt. Wehner war eine ungeheuer komplexe Persönlichkeit, mit vielen Facetten. Und als erstes muss man sagen: Er fühlte sich natürlich intelligenter als Brandt, intelligenter als Schmidt, intelligenter als Honecker. Das heißt, vom Kopf her wäre er ein Kanzler gewesen, aber klug genug zu wissen, dass er nach seiner Vergangenheit nicht Kanzler werden konnte. Also hat er versucht, alle drei zu manipulieren.

Ensikat: Hm.

 

00:23:07

Bahr: Mit großen Fähigkeiten und nicht ohne anzuwenden, was er in Moskau gelernt hatte. Ich erinnere mich: Brandt, Wehner und ich saßen zusammen, um zu besprechen, ob der Wehner der Einladung von Honecker folgt, ihn zu besuchen in Wandlitz. Und Wehner hatte Angst, richtige Angst: „Da kann was passieren. Da kann was arrangiert werden.“ Und ich habe ihm gesagt: „Hör mal, du bist da sicherer, als wenn du in New York über die Straße gehst.“ Und da sagte er: „Da gibt es Sachen, die sind nicht zu vergeben und nicht zu vergessen. Das versteht ihr nicht.“ Das ‚Ihr’ hieß: ihr Sozialdemokraten …

 

00:24:13

Ensikat: Und ihr, die ihr nicht in Moskau ward.

Bahr: … versteht das nicht. Ja, ja.

Ensikat: Also was mich bei Wehner immer ein bisschen misstrauisch gemacht hat, das war – Sie beschreiben es ja im Grunde auch – dieses Parteisoldatenhafte. Dieses, also, ja, diese Parteidisziplin, von der man ja hier in der DDR eigentlich nur Schreckliches erlebt hat.

Bahr: Also, der war doch ein großer Könner.

Ensikat: Ja, ja. Unbestreitbar.

Bahr: Also war ein großer Könner!

Ensikat: Großer Debattenredner.

Bahr: Also als der Brandt schwächer wurde, da hat der Wehner die Linie verfochten und ich hab’ mir manchmal gewünscht: Mensch, wenn der Brandt Leuten verbal so in den Hintern treten würde, wie Wehner das … Auf der anderen Seite war es eben: Es gibt kein strategisches oder politisches Konzept oder einen großen Gedanken von Wehner. Das Größte, was er gemacht hat, war seine Rede 1960 im Juni, wo er die Partei entgegen allen Beschlüssen auf die Grundlage der Verträge gestellt hat: NATO, die Adenauer geschaffen hat. Das war ’ne tolle Sache. War nicht ganz korrekt, aber war gut und war richtig. Ansonsten hat es keine, es hat keinen Wehner-Plan gegeben.

 

00:25:32

Ensikat: Ja, aber da kommt noch etwas hinzu: Er strömte auch eine gewaltige Freudlosigkeit aus. Also, etwas… ich weiß nicht, ob der überhaupt genießen konnte. Und das war vielleicht auch etwas, was ihn natürlich sehr von Brandt unterschied. Brandt, der doch auch das Leben genießen konnte.

Bahr: Ich glaube, das war ein Punkt, wo Wehner neidisch war.

Ensikat: Ja.

Bahr: Also dieser Mensch konnte lachen.

Ensikat: Ja.

Bahr: Und hatte Freude an Wein, Weib und Gesang.

Ensikat: Ja.

 

00:26:06

Bahr: Und das gehörte sich eigentlich nicht für dieses ernste Geschäft. Und das war mit Sicherheit ein Punkt, der ihn ausgezeichnet oder auch belastet hat, weil er natürlich anders sicher ein Bewusstein hatte, bin ich fest davon überzeugt. Der hatte in Moskau Menschen ans Messer geliefert. Und ich war und bin bereit, das zu akzeptieren, weil ich nicht wüsste von mir selbst, ob ich in einer solchen Lage den Mut zum Märtyrer hätte. Er wollte sich retten. Und er hat ein Schuldbewusstsein seither gehabt, was bis zum Ende seines Lebens dazu geführt hat, dass er über alles hinaus, wozu er verpflichtet gewesen wäre, sich um Menschen und persönliche Schicksale von Menschen gekümmert, …

 

00:27:23

Ensikat: Ja.

Bahr: … geholfen hat, wo er konnte.

Ensikat: Er hat ja seine Beziehung zu Honecker dafür ausgenutzt, nicht?

Bahr: Ja natürlich.

Ensikat: Um Menschen zu helfen.

Bahr: Ja, selbstverständlich. Und auch sich der Kirche zugewendet hatte. Der hatte einen Gott verloren.

Ensikat: Ja.

Bahr: Und fand Ersatz nicht in sich selbst, aber eben in einem anderen Gott. Ich sag’ noch mal: ungeheuer vielschichtig und facettenreich, diese Gestalt, über die eine wirkliche Biografie noch nicht geschrieben ist.

Ensikat: Hm. Das ist ’ne wirklich tragische Figur.

Bahr: Natürlich.

 

00:28:02

Bahr: Guillaume hatte übrigens noch eine kleine Fortsetzung. Die Fortsetzung fand statt nach dem Ende der DDR. Und zwar dadurch, dass ich eines Tages einen Brief von Markus Wolf bekam, den ich noch nie gesehen hatte. Und dort lag bei ein Brief von ihm an Brandt. Und er schrieb, ich solle das lesen und dann entscheiden, ob ich den Brief Brandt gäbe, was ich natürlich getan habe. Und in dem Brief von Brandt stand dann drin, dass es ihm schrecklich Leid täte …

Ensikat: In dem Brief von Wolf?

Bahr: … von Wolf an Brandt. Die Geschichte mit Guillaume. Das sei nicht seine Absicht gewesen. Das sei im Grunde auch seine größte Niederlage gewesen. „Aber die Entschuldigung“, sagte nun der Alte, „das hilft mir auch nichts mehr.“ Ein bisschen später habe ich gesagt: „Ich würde eigentlich gerne wissen, ob der Honecker von Guillaume gewusst hat.“ Und der Brandt sagte: „Würde ich auch gerne wissen.“ Also habe ich den Falin, der damals in Hamburg für ein halbes Jahr war gefragt, ob er ein Zusammentreffen bei sich zu Hause mit Wolf organisieren könnte. Machte er auch. Da habe ich ihn also kennen gelernt und habe ihn ziemlich direkt gefragt: „Kannte Honecker Guillaume?“ Und da sagte er, das wisse er nicht. Das konnte jeder sagen. Es ist ja nicht … Er habe zum Falle Guillaume dem Honecker nie direkt Vortrag halten dürfen. Das habe sich Mielke vorbehalten. Und dann habe ich erzählt, wie das bei uns wäre, wenn wir einen solchen Spitzenmann irgendwo hätten. Würde der Chef des BND ein persönliches Vier-Augen-Gespräch mit dem Bundeskanzler haben, ihm das erzählen, und der Kanzler würde dann entscheiden, ob der Mann bleibt oder abgezogen wird.

 

00:30:07

Aber er würde auch dabei nicht den Namen erfahren. Und darauf erzählte Falin, wie das bei ihm zu Hause ist. Da hat Stalin jeden Spitzenspion der Sowjetunion gekannt, sich um die Familie gekümmert und die Umstände gewusst. Und so sei das geblieben bis jetzt. Ich sage: „Michail Sergejewitsch auch?“ „Ja. Michail Sergejewitsch Gorbatschow auch.“ Daraus wiederum schloss ich, dass, der Dienst der DDR vom KGB gezeugt worden ist, gesäugt worden ist, und großgezogen worden ist, die Usancen auch gleich sein würden. Also Honecker wissen musste, dass es einen gibt und wie er heißt und wo er herkommt. Aber das hat er natürlich geleugnet. Wenn er das nicht geleugnet hätte, hätte sich Brandt nie mit Honecker getroffen. Hat er aber. Da wurde davon auch gar nicht mehr geredet, sondern der Honecker hat nur seine Achtung und seinen Respekt ausgedrückt, dafür dass der Brandt während der Hitler-Zeit nach Berlin illegal, gekommen wäre, denn das sei ein großes Risiko gewesen.

 

00:31:30

Filmeinspiel: Die Legende von Paul und Paula

 

00:32:13

Ensikat: Ja, also nach Ulbrichts Sturz kam ja dann dieser VIII: Parteitag, auf dem Honeckers Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik beschlossen wurde. Und das hieß also, Wohnungsbau, Innenstädte vernachlässigen, draußen Betonzellen bauen. Und die Leute waren eigentlich aber erst mal froh, dass sie Wohnungen überhaupt bekamen. An die Folgen, was das für die Innenstädte bedeutete, dachte damals kaum jemand. Es war auch so, ging erst mal so los, man … Ja, man brachte es zu einem gewissen Wohlstand. Im Grunde begann da der wirtschaftliche Abstieg der DDR, was natürlich keinem klar war, weil dieser Sozialstaat, den der Honecker da aufbaute, der war nun wirklich unbezahlbar, wie wir dann ja sehr schnell gemerkt haben.

 

00:33:07

Na ja, DDR war ja ein sehr kleinbürgerliches Land. War in jeder Hinsicht ein Land der kleinen Leute. Und dann gab es so in der Kunst so Filme wie jetzt Paul und Paula, in denen mal gefragt wurde: „Ist denn das eigentlich alles? Ist die Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik denn ein wirkliches Lebensziel?“ Es wurde also dieser real existierende Sozialismus, der ja eigentlich nur ein reiner Pragmatismus noch war, der wurde von der Kunst zusehends, zunehmend in Frage gestellt. Und anders als ’65 gab es diesmal auch größere Möglichkeiten für die Kunst. Wir durften, auch im Kabarett durften wir Dinge benennen, von denen in den Sechzigerjahren, also die in den Sechzigerjahren absolut tabu waren. Es war, ja, es war also so ein bisschen, ein bisschen Wohlstand eingetroffen und mit dem bisschen Wohlstand war auch ein bisschen mehr Freiheit möglich.

 

00:34:03

Bahr: Mir fällt auf, dass es hier eine Parallele zwischen den beiden deutschen Staaten gab, die uns gar nicht bewusst gewesen ist. Denn wir haben in der alten Bundesrepublik auch über unsere Verhältnisse gelebt. Wir hatten plötzlich Forderungen nach Lohnzuwächsen von der ÖTV von 12 oder 13%. Völlig irre! Wir hatten gelebt nur unter dem Gesichtspunkt: Es wird immer mehr. Es gibt immer mehr zu verteilen, weil die Erfolge der Wirtschaft ect. p.p. so wuchsen. Die Fresswelle war weg, die Anziehwelle war weg, die Einrichtungswelle war weg, die Reisewelle war auf höchstem Niveau. Und wir haben auch nicht gemerkt, das Warnzeichen.

 

00:35:00

Ensikat: Dieser Wettlauf der Systeme, das war ja eigentlich immer ein … Die DDR lief der Bundesrepublik ja immer hinterher. Es war immer, also, die Probleme, die für Sie da in der Bundesrepublik waren, die wirtschaftlichen Probleme, das waren ja, das sah ja für uns wie Erfolg aus.

Bahr: Na ja, aber die Substanz war in Westdeutschland natürlich ’ne andere

Ensikat: Ja.

Bahr: … und die Systemvorteile waren bei uns.

Ensikat: Ja sicher. Sicher, also durch den Wettbewerb.

Bahr: Ja, ja.

Ensikat: Das war durch die Marktwirtschaft, natürlich. Aber andererseits versuchte man natürlich im Osten immer dem hinterher zu, also dem Reichtum des Westens hinterher zu laufen. Andererseits glaube ich hatte dieser Kampf der Systeme auch einen großen Vorteil für die sozial Schwachen. Also, dass die … Der Kapitalismus war gezwungen, soziale, also soziale Zugeständnisse zu machen, die er heute nicht mehr macht, nicht mehr machen muss, da diese Alternative ja weggefallen ist. Ich glaube schon, dass also auch der Zusammenbruch des Sozialstaates oder: Der drohende Zusammenbruch des Sozialstaates begann in der, in der DDR und in der Bundesrepublik fast gleichzeitig, nur eben auf einem, in der Bundesrepublik auf einem etwas höheren Niveau.

 

00:36:11

Bahr: Das kann man wohl sagen. Ja. Wir haben natürlich aus dem Osten, ich weiß nicht, ob von euch oder von den Sowjets, natürlich auch den Witz gehört und haben ihn als einen reinen Witz betrachtet. Nämlich: Genossen, zwei Sachen dürft ihr nie vergessen. Erstens: Der Kapitalismus geht unaufhörlich dem Abgrund entgegen. Zweitens: Wir werden ihn einholen und überholen.

Ensikat: Ja bei uns hieß es immer, also: Der Kapitalismus steht am Abgrund, der Sozialismus ist schon einen Schritt weiter. Also, diese Versionen …

Bahr: Ist im Prinzip das Gleiche.

Ensikat: Ja, ja. Und dann war es natürlich, also, es ging in den Siebzigerjahren … Erst mal glaubte man auch hier noch an das Wachstum. Zu Beginn der Achtzigerjahre war nicht mehr zu übersehen, mit welchem, welchen Preis diese sozialen Leistungen kosteten. Also der Verfall der Innenstädte, im Grunde das Zurückbleiben der Industrie. Da wurde ja zum Teil noch in Werken produziert, die stammten von der vorigen Jahrhundertwende, und mit den gleichen Methoden. Und in der Arbeitsproduktivität blieb der Osten so weit zurück. Und das, je mehr wir zurückblieben, um so lauter wurden die Losungen, nicht? Also: Vorwärts immer, Rückwärts nimmer! Das hieß also: Bloß nicht zurückgucken!

 

00:37:34

Bahr: Ja, aber was die DDR geleistet hat unter diesen Umständen ist natürlich bewundernswert. Also, wir haben ja in Westdeutschland erstklassige Produkte für Quelle und Neckermann ect. p.p. aus der DDR bezogen. Und die …

Ensikat: Und das war genau das, was die DDR-Bürger aufgeregt hat, dass alles, was hier an guten Sachen hergestellt wurde, eben in den Export ging.

 

00:38:00

Filmeinspiel: DEFA-Augenzeuge 48/74/3

 

00:38:22

Ensikat: In den Siebzigerjahren, um zu zeigen, was für ein reicher Staat doch diese DDR ist und dass er durchaus seinen Wohlstand auch nach außen zeigen kann, wurde ja der Plan, fasste man ja den Plan, diesen Palast der Republik zu bauen. Übrigens etwas ganz Typisches für DDR: Dieser Palast, da war noch nicht der Grundstein gelegt, da gab es schon die ersten Witze über ihn; hieß ‚Erichs Datsche am Kanal’, ‚Edeka’. Ne, also, gab’s furchtbare – war da zu protzig. Es gab furchtbar viele spöttische Bezeichnungen.

Bahr: Erichs Lampenladen.

Ensikat: Erichs Lampenladen war es erst, als wir die Lampen gesehen hatten.

Bahr: Ach so.

Ensikat: Das war dann später. Auf jeden Fall war gegen diesen Palast eigentlich eine Stimmung in der Bevölkerung! Weil man sagte: „Wir brauchen so viel dringender Wohnungen als so einen blöden Palast. Als er dann aber fertig war, wurde er von den Leuten angenommen. Also ich selber, ich hab’ natürlich auch Witze … Wir haben im Kabarett natürlich über diesen Palast auch Witze gemacht. Aber ich war dann völlig verblüfft, wie dieses Ding funktioniert hatte. Ich hab’ dort selber dann auch geschrieben für – da wurde so ’ne, wurden Kinderrevuen gemacht zu Weihnachten. Oder dann fanden dort … Spaß muss sein, das war auch so ’ne Revue, wo der Eberhard Esche, die der Eberhard Esche konferierte. Und da konnten wir also politische Witze machen, die woanders nicht möglich waren. Das hatte auch damit zu tun, dass dieser Palast der Republik dem Ministerrat unterstand und nicht direkt der Partei. Also dort waren auch Dinge möglich, die sonst nicht möglich waren. Und es war, ja, es war so ’ne Art riesiger Kulturpalast, der von den Leuten, ob sie nun aus dem Westen kamen oder aus dem Osten kamen, wirklich angenommen war.

 

00:40:06

Und das gehörte eben auch mit zu dem, ja, zeigen: Uns geht’s gut. Uns geht’s gut, wir können uns was leisten! Es gab ja damals auch so ’ne Losung: Ich kann mir was leisten, denn ich leiste was. Man baute also, die offizielle Propaganda baute auf: Wir leisten etwas! Andererseits, im Witz hieß es dann eher … Es gab doch im Westen dieses: Es gibt viel zu tun, packen wir es an! Die DDR-Version davon hieß: Es gibt viel zu tun, warten wir es ab. Also, es war immer auch dieser Gegensatz zwischen dem verbreiteten Optimismus, dem regierungsamtlichen Optimismus, und der Skepsis der Bürger. Es gab dann auch so einen Satz in der DDR: Optimismus ist Mangel an Information.

 

00:40:58

Bahr: Also ich kann eine wirkliche Parallele zur Bundesrepublik nicht herstellen. Wir hatten eigentlich keine Probleme mit der, mit dem Wachsen des Lebensstandards und dem Wachstum des Reichtums.

 

00:41:12

Filmeinspiel: Konzert Wolfgang Biermann

 

00:41:25

Ensikat: Wolfgang Biermann war bis 1976, bis zu seinem Rauswurf, ein Geheimtipp in der DDR. Wir kannten ihn natürlich, kannten seine Lieder, fanden sie wunderbar. Haben Bänder angefertigt und weitergegeben. Andererseits, als er dann rausgeworfen wurde, da sollten doch überall so Ergebenheitsadressen veröffentlicht werden. Und meine Schwester, die war Lehrerin in einem kleinen Ort bei Berlin. Die rief mich an in Dresden, ich hab’ dort gerade inszeniert. Rief mich in Dresden an und sagte: „Du, ich soll was gegen Biermann sagen. Sag mal, wer ist denn Biermann überhaupt?“ Er ist eigentlich richtig berühmt geworden durch diesen Rauswurf. Und es war für uns, ja, also ’ne schreckliche Sache, dieser Rauswurf. Dass jemand ausgebürgert wurde! Wo gab’s denn das? Das gab’s doch nur in der Nazi-Zeit, nicht? Da hat der Stefan Heym ja damals diesen schönen Spruch: ‚Wenn sich das Ausbürgern erst einbürgert!’ Das war schon ein entsetzlicher Schlag für uns, die wir ihn kannten. Und wir dachten dann alle: ‚Na gut, jetzt kommt er in den Westen und da wird er in die Bedeutungslosigkeit sinken.’ Was aber nicht der Fall war.

 

00:42:46

Bahr: Ich kannte den Namen Biermann, hatte nicht viel gehört, selbstverständlich, außer dem Namen. Und kann mich genau erinnern an ein großes Konzert, dass er unmittelbar, nachdem er rübergekommen war …

Ensikat: In Köln.

Bahr: … in Köln hatte. Und das war ein großartiges Konzert. Und es war so, dass einem die Haut manchmal bibberte. Und ich habe dann im Laufe der Jahre festgestellt, dass er sich ein bisschen anpasste; Begabung und sprachmächtig war er und ist er …

Ensikat: Ist er.

Bahr: … geblieben. Und ich hab’ ihm dann übel genommen die Art, in der er meinen Freund Lew Kopelew im Spiegel niedergemacht hatte. Ich hatte den aus der Sowjetunion geholt, und ich hab’ dann den Solschenizyn aus der Sowjetunion geholt nach langen, langen Bemühungen. Und das lief überhaupt natürlich dann nur, wenn die einverstanden oder nicht, jedenfalls ausgebürgert wurden. Wobei es auch in der Sowjetunion die schwerste Strafe ist, die man sich ausdenken kann, abgesehen von Todesstrafe oder Verbannung, wenn man sein Land verliert.

 

00:44:11

Ensikat: Ja. Noch mal auf das Konzert in Köln zurückzukommen. Ich hab’ mir das mehrmals angehört und – da hat ja ein Kommunist gesungen. Das war, also, da saßen … Die Antikommunisten saßen hier im Politbüro, im ZK! Und das war, also so hab’ ich es auch damals empfunden, das ist ja ein Kommunist! So kommunistisch war ich in meinem Leben nicht, wie er da.

Bahr: Na ja, also mindestens sozialistisch. Und ich hab’ mich gewundert, welchen rauschenden Beifall er bekam.

Ensikat: Ja. Das hat mich auch gewundert. Aber er hat die Leute eben mitgerissen und das konnte er ja, nicht?

 

 

 

4. Teil

Über die Wende in der DDR, die Demonstration am 4.11.89, die Rolle der Künstler. Über Gorbatschows Glasnost und Perestroika, über das Ende der DDR, über die friedliche Revolution, über Schabowski und die Grenzöffnung am 9. November 89. Über Honeckers Sturz und Egon Krenz. Über die Volkskammerwahl 1990 und die deutsche Einheit, Kohl als Kanzler der Einheit, die Auflösung der NVA, über die Abwicklung der ostdeutschen Intelligenz, über die Stasi-Akten, Vergleich der beiden deutschen Diktaturen, über den 9. November in der deutschen Geschichte. Über das Verhältnis Ost und Westdeutschland, das Kabarett (Die Distel) nach der Einheit. Über die Einbindung Deutschlands in Europa.

 

Transkript

00:00:18

Filmeinspiel: Solo Sunny

00:01:05

Ensikat: Da wurde natürlich, wenn man das sieht, eigentlich das elende Berlin dargestellt, das Schmutzige und so schön fotografiert als wäre es Paris. Und es ist im Grunde ja doch auch in der DDR so gewesen, dass Kunst und Literatur, im Grunde diese Wende, wenn wir das komische Wort gebrauchen wollen, überhaupt erst möglich gemacht haben. Auf jeden Fall, da waren natürlich die Kirchen, die eine große Rolle spielten, aber unter dem Dach der Kirche versammelten sich ja viele Künstler. Also ich hatte, die meisten meiner Lesungen waren in irgendwelchen Kirchen… Mit Kunst alleine kann man natürlich nichts verändern, weiß ich, aber man kann gewisse Veränderungen eben anschieben. Und da waren solche Filme, wie Solo Sunny von Konrad Wolf, obwohl es alles andere als ein revelotionärer Film war, ganz wichtig. Einfach ein Film, der Fragen stellte, für die offiziell keine Antwort vorgesehen war. Ich erinnere mich noch an einen Philosophen, der uns mal erklärte, dass man…in DEFA-Filmen gab es plötzlich Selbstmorde, da sagte er, sowas sollten wir noch nicht darstellen, weil wir auf die Frage des Todes noch keine antwort gefunden haben.

 

00:02:22

So primitiv ging es ja zu! Mit dieser Öffnung, die vom Osten her kam, bekamen die DDR-Leute natürlich auch viel mehr Mut und das sie mehr Mut bekamen, dazu, ich nehm den Mund mal ganz voll, dazu haben wir auch im Kabarett beigetragen, indem wir Sachen ausgesprochen haben auf der Bühne, von denen man meinte, die darf man doch gar nicht sagen.

 

00:02:45

Bahr: Also wir haben natürlich weder diese Filme, noch die Kabarettprogramme wirklich verfolgt oder verfolgen können und haben insofern nicht die Hand am Puls gehabt.

 

Ensikat: Das ist ja ein Problem, was sich dann im Grunde mit dieser Vereinigung fortgesetzt hat. Wir kommen aus einem unbekannten Land, in ein Land von dem wir meinten, es zu kennen, da wir ja über Fernsehen sehr gut informiert waren über das, was da geschah. Im Gegenteil wusste aber doch im Westen kaum jemand wirklich etwas über den Osten.

 

00:03:18

Bahr: Naja, also…

Ensikat: Das wir uns noch selbst befreit haben. Das wir es waren, die am 4. November, die vorher in Leipzig auf die Straßen gegangen sind zur Montagsdemonstration, die am 4. November auf die Straße gegangen sind und die im Grunde diese Öffnung der Mauer erzwungen haben. Man hat jetzt ja oft den Eindruck, wir haben vom Westen die Demokratie geschenkt gekriegt. Aber was wir geschenkt gekriegt haben, sind die Durchführungsbestimmungen und das Geld.

Bahr: Also das ist jetzt kabarettistisch überspannt, wenn ich das jetzt mal so sagen darf. Für mich stellt sich das so dar, dass erstens, die Menschen in Westdeutschland überhaupt nicht gedrängt haben auf Einheit, nervös mit den Füßen gescharrt, sich dafür gar nicht interessiert und auch nicht sehr wild darauf waren… zweitens, die Westmächte auch nicht, drittens, Kohl auch nicht, denn er hat am 9. November auch nichts gewusst, genauso wenig wie wir. Diejenigen, die die Einheit gemacht und oder erzwungen haben, waren die Menschen in der DDR, die die Angst verloren hatten. Ich kann auch sagen, das was wir im Brief zur deutschen Einheit geschrieben hatten, das das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung handeln sollte, konnte man am 9. November sehen, weil diese Selbstbestimmung von den Ostberlinern oder den Ostdeutschen in die Hand genommen wurde.

 

00:05:14

Ensikat: Anfang des Jahres 1989 versammelten sich mehrere ostberliner Künstler, Schriftsteller, auch Rockmusiker waren dabei, Heiner Müller war dabei, Volker Braun, Christoph Hein und wir wollten aus Anlass des Geburtstages, ich weiss nicht der wievielte es war, von Stalin, im Berliner Ensemble eine Veranstaltung gegen den Stalinismus machen und meinten also, wenn sich da nur genügend mutige Leute zusammenfinden, könnte das auch passieren. Wir trafen uns, wie immer natürlich heimlich, in irgendeiner Theaterdramaturgie und ich glaube es war Ende April ’89, da saßen wir wieder zusammen und eine Kollegin sagte, meint ihr denn überhaupt, dass die erlaubt wird, diese Veranstaltung? Meint ihr denn nicht, dass die Stasi das verhindern würde?

 

00:06:06

Da sagte Heiner Müller dann, was meint ihr denn? Die Stasi ist doch hier, die kann es euch doch direkt sagen. Wir lachten natürlich alle drüber. Das haben wir geahnt, dass da irgendeiner beisitzen würde, die waren ja überall dabei. Aber wir haben sie so ernst nicht genommen…und dann fügte der Heiner Müller hinzu und das hat uns alle umgeworfen: „Woher wisst ihr denn, dass es im Dezember die DDR überhaupt noch geben wird?“

Wir sagten, jetzt ist er verrückt geworden und dann sagte er: „Mir kommt es vor, wie dieser Witz mit dem Englischschüler, dem Anfänger im Englisch, der da sagt, I become a beefsteak. Un der DDR wird es so gehen“ Also er gehörte wirklich zu den Wenigen, die es zumindest geahnt haben, aber wir haben ihn alle für verrückt gehalten.

 

00:07:00

Bahr: Warum sollen denn Schriftsteller oder Dichter kein Genie haben mit der Fähigkeit, sich etwas vorstellen zu können, was andere noch nicht sehen? Das ist natürlich fabelhaft.

Ensikat: Ja, aber das ist viel seltener als man denkt.

Bahr: Ja, das wissen wir. Aber das bringt mich zu dem Punkt, der dann für diese berühmte Wende noch sehr wichtig war. Sie wäre nämlich auch nicht gekommen ohne Gorbatschow.

Ensikat: Natürlich nicht.

Bahr: Also, der Punkt war ja, die Menschen in der DDR hatten Angst verloren vor dem Regime. Der andere Punkt war das Regime verfügte noch über alle Möglichkeiten und Machtinstrumente des Staates, um das zu unterdrücken. Der dritte Punkt war, der Gorbatschow war nicht nur ein toller Mann, was Abrüstung anging, sondern er hatte, ohne ein Konzept zu haben, natürlich die beiden Stichworte Glasnost und Perestroika als Richtung wie es gehen sollte…

Ensikat: Das waren für uns Zauberworte. Glasnost hieß ja Offenheit und das war ja das, was wir auch zuerst mal forderten. Offenen Umgang mit den Problemen.

 

00:08:29

Filmeinspiel: Demo 4. November 1989

 

00:08:52

Ensikat: Aber der 4. November, das war diese Demonstration auf dem Alexanderplatz von, ich meine, einer halben Million oder einer Million Leute. Ging zurück auf einen Aufruf von uns Künstlern und Literaten, die wir uns am, ich glaube, es war der 19. oder der 14. Oktober, hatten wir uns im Deutschen Theater versammelt, um über die Ausschreitungen am 7. Oktober in Berlin zu diskutieren. Und da schlug, meines Wissens war es Gregor Gysi – war ja die Geburtsstunde von Gysi zum Politiker –, da schlug Gysi vor, diese Demonstration zu veranstalten. Und zwar in Absprache mit der Polizei. Dass wir für die Gewaltlosigkeit sorgen würden. Und das war eine wirklich von uns, von ein paar chaotischen Künstlern aufgerufen und die Massen strömten nach Berlin. Und es kam zu einer wirklich fröhlichen, Selbstbefreiung. Das war im Grunde die Selbstbefreiung, wo das Fernsehen der DDR, das staatliche Fernsehen der DDR, das bisher immer nur ein Sprachrohr von Partei und Staat gewesen ist, das übertrug diese Demonstration in voller Länge. Ich erinnere mich noch, ich bin gegen Ende, also vor Ende der Kundgebung, die sich an die Demonstration anschließt, schnell nach Hause gefahren, um den Fernsehapparat anzustellen. Und als ich sah: Das läuft bei uns im DDR-Fernsehen, da wusste ich, jetzt haben wir gesiegt.

 

00:10:22

Bahr: Ich habe an diesem Abend eine Einladung gehabt zum Abendessen bei Freunden. Wir waren so acht Leute ungefähr, und haben das angestellt und haben das verfolgt. Und waren also völlig überrascht. Wir haben alle gesehen, das hat es noch nie gegeben. Wir haben so etwas gar nicht für möglich gehalten, dass so etwas übertragen wird. Wir haben sofort angefangen, über das Ende der DDR zu reden, darüber dass, wenn die Regierung oder die Organe das gestatten: Was ist da eigentlich los? Man kann eigentlich alles erwarten. Wir haben überhaupt nichts geahnt vom 9. November. Und das konnten wir auch nicht. Aber es war elektrisierend und es war aufregend, richtig aufregend. Das war eine völlig neue Qualität von Übertragungen und Nachrichten und Bildern aus der DDR. Und ich sehe noch die Leute, wie sie nacheinander da auf das Podest stiegen. Und wer da alles geredet hat! Und wie er geredet hat! Und wer da alles reden durfte! Und, das war übrigens ’ne große Koalition im wahrsten Sinne des Wortes.

 

00:11:35

Ensikat: Ja.

Bahr: Und es wäre ohne die Mitwirkung von SED und solchen Organen auch nicht möglich gewesen, nicht?

Ensikat: Ne, natürlich nicht. Es war ja ’ne Sicherheits…

Bahr: Toll!

Ensikat: Wir nannten das eine Sicherheitspartnerschaft. Und wenn man sich überlegt: Also wir chaotischen Künstler versuchen so etwas zu organisieren und es klappt! Also, wann hat es in Deutschland je eine fröhliche … Wann hat es überhaupt eine Revolution gegeben und wann noch eine fröhliche Revolution? Also, das ist wirklich etwas so Einmaliges, ich bin so stolz und glücklich, das erlebt zu haben.

Bahr: Mit Recht!

 

00:12:12

Ensikat: Ja, das war für mich viel wichtiger als der 9. Übrigens hatte die Staatsmacht große Angst davor, dass wir die Mauer durchbrechen würden. Keiner von uns hat daran überhaupt nur einen Gedanken verschwendet! Da ich irgendwie mit zu denen gehörte, die diesen 4. November da vorbereiteten, bekam ich noch einen Anruf aus dem Kulturministerium, wo ich gebeten wurde, doch meinen Einfluss geltend zu machen, dass wir diese Demonstration raus nach Köpenick verlegen, da in Oberschöneweide, wo das Stadion von Union ist.

Bahr: Weit genug weg.

Ensikat: Weit genug weg. Und ich sage: „Also das ist völlig undenkbar. Und wieso denken Sie denn, ich hätte den Einfluss?“ Die hatten nämlich die Vorstellung, wir wären eine Organisation wie sie selber und da könnte man was durchstellen. War natürlich völlig undenkbar. Aber das zeigt nur, wie die über uns gedacht haben. Die dachten, wir wären auch so ’ne Parteigruppe, dabei waren wir ein ganz loser Verband. Wir haben nur in diesem einen Moment mal, tja, die Meinung einer großen Mehrheit getroffen. Das war’s. Mehr war es vielleicht gar nicht.

 

00:13:24

Bahr: Na ja, als der Schabowski – mir immer noch nicht restlos klar – da seine Pressekonferenz gemacht und praktisch auf eine Frage dann verkündet hat: „Na sofort sind die freien Reisemöglichkeiten da“, war ja das Beispiel dafür gegeben, dass die DDR nicht mal gefragt, nicht mal konsultiert mit Moskau, die erste souveräne Entscheidung ihrer Geschichte gefällt und das war auch die letzte.

Ensikat: War der Untergang.

Bahr: Ja, das war der Untergang.

 

00:14:09

Ensikat: Ich hatte ja damals immer noch die Idee, dass de Krenz vielleicht die Mauer nur aufmachen wollte, um die Leute endlich von seinen Straßen zu kriegen und daraus konnte er sich ja verlassen. Wenn sie dann drüben sind, dann sind sie ganz schnell in den Warenhäusern.

Bahr: Ich hab den Krenz hinterher noch gefragt: „Warum haben Sie nicht den Bundeskanzler angerufen“, und ihm gesagt „Herr Bundeskanzler, wir beide werden die Mauer beseitigen. Ich brauche ein bisschen Geld dafür, damit die Leute nicht weglaufen und ich das bezahlen kann, aushalten kann, wirtschaftlich. Der hätte sofort zugestimmt.“

Ensikat: Ja, sicher.

Bahr: „Wir hätten Ihnen eine Sonderausgabe des Bundesverdienstkreuzes geschaffen! So müssen Sie in den Kahn gehen!“ Und dann hat er mir geantwortet: „Ich konnte den ja nicht erreichen. Der war in Warschau.“

 

00:15:00

Ensikat: Aber er musste doch…Warschau hat doch auch Telefone!

Bahr: Das habe ich mir auch gedacht.

Ensikat: Aber ich glaube, dieser ganze Schluss zeigt nur, wie dilettantisch das alles aufgebaut war. Wenn man schon überlegt, dass seit Monaten ja keine Entscheidung mehr möglich war in der DDR, weil Honecker krank war! Und dass immer wieder darauf verwiesen wurde: „Wir können jetzt nichts entscheiden. Wenn Honecker wieder da ist, dann wird entschieden.“ Das zeigt ja eigentlich ’ne … Das kann uns nur im Nachhinein sagen, wie wenig wir damals vorausschauend waren.

Bahr: Na, jedenfalls die Führung, sofern man von der noch reden konnte, war nicht auf der Höhe der Zeit.

Ensikat: Ne! Das hatten wir … Dass sie soweit hinter der Zeit wäre, das hatten wir nicht vermutet.

 

00:15:49

Ensikat: Die Wirkung von Honeckers Abwahl wurde durch die Rede von Krenz, die daraus erfolgte, eigentlich zunichte gemacht. Denn für uns war Krenz war nur der jüngere Honecker. Und, im Gegenteil, Krenz … Vor Honecker hatten wir immer noch Respekt eben wegen seiner Vergangenheit. Diesen Respekt brachten wir dem Krenz nicht mehr entgegen. Und diese Rede, die er dort gehalten hat, die war so leer. Ich weiß noch: Meine Familie stand um mich herum und fragte immer: „Warum guckst du dir den Quatsch überhaupt an?“ Ich sagte: „Ich muss ja wenigstens wissen, ob es nur Quatsch ist.“ Aber es war, wirklich, es war so leer, es war nichts!

 

00:16:30

Bahr: Ich hatte ja erlebt, dass nach dem Besuch von Gorbatschow zum 40. Jahrestag der DDR …

Ensikat: Ja, wo er vorzeitig abgereist ist.

Bahr: Da war vorher Falin da gewesen und hatte gefragt: „Was soll denn der Gorbatschow sagen?“ Und da habe ich ihm gesagt: „Ich kann ihm genau sagen, was er nicht sagen darf. Er darf nicht sagen: ‚Es ist alles in Ordnung’, da wird er ausgepfiffen. Er darf nicht sagen: ‚Nun macht mal was’, sonst geht der Laden hoch, noch auf dem Wege, wenn er zurück auf den Flugplatz will.“ Und der Falin hat dann hinterher gesagt, sie hätten also Slalom gefahren und die Rede noch gearbeitet während des Anflugs auf Berlin. Und Brandt und ich wollten natürlich die Hand am Puls halten, sehen, wie ist denn der Besuch aufgenommen worden von den Moskowitern, die dabei waren. Und bekamen von dem zweiten Mann, Jakowlew, abends was zu essen. Und plötzlich sagte er: „Wer wird denn der Nachfolger von Herrn Honecker?“ Da war noch kein Wort davon die Rede, dass Honecker abgelöst würde. Und ich hab ihm gesagt: „Das weiß ich nicht. Kann ich auch nicht entscheiden. Aber ich weiß, wer es wird.“ „Na?“ „Egon Krenz.“ Und da machte er eine ganz abwertende Handbewegung. Die schätzten den offenbar nicht so, hätte vielleicht Modrow vorgezogen. Und dann setzte der Jakowlew hinzu: „Na, wollen wir doch erst mal abwarten, was morgen in Leipzig passiert, am Montag.“

 

00:18:25

Ensikat: Das war dann der 9. Oktober.

Bahr: Ja. Und dann habe ich gedacht: ‚Mensch, welch eine Veränderung! Bisher guckten die Leipziger immer nach Moskau, was da passiert. Und jetzt gucken die Moskowiter nach Leipzig, was da passiert. Da ist wirklich was los!’ Aber die haben immer noch nichts geahnt.

Ensikat: Ja. Aber das war ja überhaupt das Gefühl, was wir in der Zeit hatten: Die Welt guckt auf uns, auf diese langweilige DDR, von der man sonst doch kaum Notiz genommen hatte. Plötzlich waren wir interessant!

Bahr: Ja. Stimmt ja auch.

Ensikat: Na, und, Selbstbefreiung ist auch was, wofür man sich interessieren sollte.

Bahr: Passiert nicht so oft.

Ensikat: Ne. Vor allen Dingen in Deutschland nicht.

 

00:19:05

Filmeinspiel: Wahl vom 18. März 1990

 

00:19:20

Bahr: 1990, ich hab einem Freund, dem schwedischen Botschafter gesagt: „Also, der Kanzler gewinnt, der die Einheit bringt. Und selbst wenn wir einen Mann machen könnten, der die Visionen von Willy Brandt mit den Machereigenschaften von Helmut Schmidt verbindet, kann er es nicht schaffen.“ Er sagte: „Das wäre ja auch entsetzlich. Diese Kombination wäre Napoleon. Und davon hat Europa ein Mal genug gehabt.“ Das heißt, wir haben den Wahlkampf nicht in die Hand genommen, sondern, dem Vorschlag des damaligen Vorsitzenden Hans-Jochen Vogel folgend, wir sollen es so machen wie die Freunde von der SDP in der DDR es wünschen, während Kohl mit Brutalität gesagt hat: „Wie man Wahlen gewinnt, weiß ich genau. Und der Generalsekretär Rühe soll das mal in die Hand nehmen.“ Und hat es auch in die Hand genommen und hat den Wahlkampf geführt unter dem Gesichtspunkt: Kommt zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid. Wir werden euch erquicken. Und natürlich war die Macht bei Kohl, und natürlich wusste die DDR-Bevölkerung, wo die Macht war, und natürlich wollten sie auch so schnell wie möglich Bundesbürger werden. Also, dieses ganze Gerede, soll man sagen Gejammere, hinterher, sie seien angeschlossen worden, kann mich überhaupt nicht überzeugen. Die wollten nämlich angeschlossen werden.

 

00:21:03

Ensikat: Das stimmt, das stimmt. Leider, leider.

Bahr: Und ich weiß, ich war hinter dem Friedrichstadtpalast in diesem alten Hotel, was mal Partei- oder Regierungshotel war, weiß ich nicht mehr …

Ensikat: Sofia.

Bahr: … und dann bin ich frühmorgens unten gewesen im Restaurant. Und da kam der Ober und fragte, ob ich ein Ei will. Warum nicht? Ein gekochtes Ei zum Frühstück ist was Schönes. Sagt er: „Ein West-Ei oder ein Ost-Ei?“ Ich sage: „Was?“ „Ja“, sagt er, „hier gibt es ’ne ganze Menge Kunden, die wollen auf keinen Fall ein Ost-Ei haben.“

Ensikat: Ja, also …

Bahr: Also, das war völlig klar.

Ensikat: Ich kann das leider nur bestätigen, obwohl ich bis, noch bald bis die erste Prognose erschien da am 18. März, noch fest davon überzeugt war, die Prognose irrt sich. Weil, ich meinte also, das dass, was Willy Brandt für den Osten war der SPD auch 1990 noch angerechnet wurde. Ich hatte also mit so einem Ergebnis überhaupt nicht gerechnet. Ich war damals im Palast der Republik, damals noch nicht die Ruine.

Bahr: Ich auch.

 

00:22:10

Ensikat: Da waren alle Fernsehsender da. Ich war da mit Wolfgang Gruner, dem Kabarettisten aus Westberlin. Wir sollten beide diese Wahl kommentieren, und wir sahen uns beide außerstande. Weil wir beide … Dieses Wahlergebnis hat uns so umgeworfen, dass … Der Schily wurde so sehr kritisiert, weil er da mit dieser Banane reinkam, nicht? Es war ja so ein provozierend.

Bahr: Ja.

Ensikat: Ich fand es schon an dem Abend eigentlich: Ja, so war es. Wir haben uns für die Banane, wir haben eben die D-Mark gewählt und die sahen wir eben am sichersten bei Kohl.

 

00:22:41

Bahr: Aber noch schlimmer fand ich, und da beziehe ich mich voll ein, in der vollen Verschätzung der mentalen Unterschiede.

Ensikat: Ja.

Bahr: Ich hatte gedacht: ‚Mensch, millionenfache Besuche in beiden Richtungen, die müssen doch wissen, wohin sie kommen! Das war falsch. Die Deutschen haben sich bei den Besuchen immer nur das Sonntagsgesicht gezeigt.

Ensikat: Das, und vor allen Dingen, es gab ja damals dann immer noch die Möglichkeit, die Besuchszeit geht ja auch mal zu Ende. Man hat dann immer alle Widersprüche, die es ja auch damals schon gab, eigentlich … Man wollte sich in dieser kurzen Zeit, die man sich sah, ja nicht streiten. Also, insofern hat uns damals die Mauer auch ein bissel geschützt voreinander. Der Schutz ist dann weggefallen.

 

00:23:29

Bahr: Ja. Natürlich. Aber der Kernpunkt war, der wirkliche mentale Unterschied zwischen einer Gesellschaft, die kollektiv erzogen war über 40 Jahre, und einer Gesellschaft, die nach dem individuellen Leistungsprinzip erzogen war. Und die Letzteren haben keine Achtung empfunden für die ganz andere Qualität der Lebensleistung, die man nur in der DDR entwickeln konnte, aber auch entwickelt hat. Dass jemand stolz sein konnte auf das, was er in der DDR gemacht hat oder erreicht hat, war völlig fremd. Das war übrigens meiner Meinung nach auch das Ergebnis der vollen fehlerhaften Bezeichnung ‚Wiedervereinigung’.

Ensikat: Ja, na was war da denn ‚wieder’!?

Bahr: Ja, die Bundeswehr und die NVA sind doch nicht wieder vereinigt worden!

Ensikat: Nein. Die NVA ist aufgelöst worden.

Bahr: Sondern das war eine wirkliche neue Vereinigung der beiden Staaten.

Ensikat: Ja, man kann sogar böser sagen: Die NVA ist aufgelöst worden und die Bundeswehr hat die Kasernen besetzt.

Bahr: Ja. Das ist doch nicht Wiedervereinigung.

Ensikat: Überhaupt nicht. Das hat nicht mal was mit einer Vereinigung zu tun. Und das ist, glaube ich, der Grundirrtum gewesen, dass die Bundesrepublik meinte, sie erweitere sich, sie würde jetzt größer.

Bahr: Ja.

 

00:24:55

Ensikat: Und die Eingeborenen dort, die sind ja im Grunde, sprechen ja unsere Sprache und die lernen das schon, wie es bei uns zugeht.

Bahr: Tja, und was wollen die eigentlich? Die wollten die Wiedervereinigung! Die haben sie doch nun gekriegt! Was wollen sie denn nun noch?

Ensikat: Na ja, es war ja … Das Problem für die Ostler war: Sie hatten den Kapitalismus gerufen und haben sich gewundert, dass da wirklich Kapitalismus kommt. Denn keiner …

Bahr: Und zum Teil, so, wie sie gelernt haben.

Ensikat: Ja, eben. Und keiner hatte doch gedacht, dass der Kapitalismus aus dem Parteilehrjahr der wirkliche wäre. Die Vorstellung vom Westen wurde im Osten im Wesentlichen bestimmt durch das Werbefernsehen. Ich glaube, das Werbefernsehen hat eine größere propagandistische Wirkung als alle politischen Sendungen. Also, wir haben uns ineinander getäuscht, glaube ich. Und das …

Bahr: Aber wir haben uns so gemocht!

Ensikat: Ja, bis wir uns kennen lernten. Aber gut, das ist ja nun nicht, wäre ja nun nicht die erste Liebe, die am Zusammenleben scheitert, nicht?

Bahr: Das ist wohl wahr.

 

00:25:52

Ensikat: Das gibt’s ja öfter. Aber ich glaube, die gegenseitige Unfähigkeit, oder die beidseitige Unfähigkeit, den Anderen einfach als anderen zu akzeptieren, es interessant zu finden, dass der anders ist, das haben wir total verpasst. Ich hab, bin … 1990 kam ich nach München und traf meinen damals schon alten Freund Dieter Hildebrandt wieder. Und seine erste Frage war: „Willst du mit mir zusammenwachsen?“ Hab ich gesagt: „Um Gottes Willen!“ Und er sagte: „Gut, dann können wir jetzt uns mal auseinandersetzen.“ Und das genau haben wir verpasst nämlich. Statt uns erst mal auseinander zu setzen und zu klären, was wir wollen, sind wir in der Umarmung fast erstickt.

Bahr: Aber, in allem Ernst: Wir haben ja dann das Ziel formuliert, der inneren Einheit, als oberstes Ziel. Ich sehe nicht, dass das Ziel der inneren Einheit, so wie es postuliert worden ist, erreicht wird. Sondern ich sehe, dass die junge Generation hineinwächst in die Selbstverständlichkeit des neuen Staates. Das ist dann auch Einheit. Die alte Generation hat den großen Vorteil, den die Rentner haben. Die haben wirklich profitiert von der Einheit. Und die mittlere Generation muss sich am schlimmsten ihren Weg bahnen und zurechtfinden …

Ensikat: Ja.

Bahr: … in einer für sie fremden Welt.

 

00:27:30

Ensikat: Ja, und wen ich für einen der Hauptverlierer dieser Einheit halte, das ist die ostdeutsche Intelligenz. Die ostdeutsche Elite, die ohne Ansehen der Person eigentlich abgewickelt wurde. Was sich da an den Hochschulen abgespielt hat, was sich da in der Charité abgespielt hat …

Bahr: Lieber Herr Ensikat, ich empfinde das als eine Schande.

Ensikat: Ja.

Bahr: Und ich werde nie vergessen, dass der Brandt gesagt hat, mit dem Blick auf mehr als 40 Jahre Franco-Herrschaft: „Wenn die Spanier das so gemacht hätten, wie wir es machen, hätte es einen neuen Bürgerkrieg in Spanien gegeben. Denn da ging nun der Verlust und der Krieg und alles durch alle Familien durch. Und wenn wir so großzügig gewesen wären mit der SED wie wir es mit den ungleich komplizierteren schrecklicheren NSDAP-Mitgliedern gewesen wären, dann wäre es ja auch noch in Ordnung gewesen.

 

00:28:40

Ensikat: Da hab ich immer das Gefühl, hier wurde etwas nachgeholt, am untauglichen Objekt nachgeholt, was am tauglichen Objekt nämlich 1945 eben nicht erfolgte. Gut, das war auch eine völlig andere Situation. Damals war ja die Mehrheit betroffen. Es war ja ’ne verschwindende Minderheit, die da aus der Emigration. Die wurden ja auch abgelehnt, die da aus der Emigration zurückkamen. Und da handelte es sich um wirkliche …, um Massenmorde. Und jetzt wurde, also dann gab’s ja diesen furchtbaren Vergleich, ich weiß nicht, von einem der Bürgerrechtler 1991 oder so, der da sagte, die Nazis hätten Leichenberge hinterlassen und die DDR hätte Aktenberge hinterlassen. Und das überhaupt nur vergleichen zu wollen.

Bahr: Ja, es ist ein Unterschied, nicht? Das gibt einen Unterschied, ob Berge von Leichen oder Berge von Papier!

Ensikat: Na und wie, und wie! Ich finde, dieser Vergleich, der verbietet sich einfach. Bloß, hier wurde also etwas, auch wenn diese, wenn von dieser zweiten deutschen Diktatur einfach nur geredet wird – erstens ist es nicht die zweite; wir hatten schon viel mehr davor – und dann diese beiden eigentlich … Statt die Bundesrepublik mit der DDR zu vergleichen, dann käme die Bundesrepublik viel besser weg. Aber die DDR mit der Nazi-Zeit zu vergleichen, das halte ich also für einen, für einen Grundirrtum.

 

00:30:01

Bahr: Und der andere wirkliche große Fehler natürlich, dass man über die Stasi den Eindruck erweckt hat, als ob die Stasi wichtiger gewesen wäre, als …

Ensikat: … als die Partei.

Bahr: … als der ganze Staat, als die Partei und alles, was dazu gehört. Dass es ein Stasi-Staat gewesen ist und dass die Stasi-Akten benutzt worden sind, als ob es sich um Bibeltexte handelt. Also, da muss ich wirklich sagen, der Kohl hat ja vor der Enquete-Kommission das gesagt, was ich auch denke, nicht? Wenn man ihn gefragt hätte, hätte er gewusst, was er mit denen macht. Ob er verbrannt oder vergraben oder in den Keller gesteckt – aber jedenfalls nicht benutzt.

Ensikat: Aber ich halte die Öffnung der Stasi-Akten im Grunde für richtig. Nur wie man es dann benutzt hat! Wie Sie sagen, dass man es wie die Bibel gelesen hat, doch nicht wissend … Da haben Leute, da haben Geheimdienstleute gearbeitet, deren Kariere davon abhing, was sie da berichtet haben. Und das nun für die Wahrheit zu halten! Das war ja, diese Akten wurden angelegt, um Menschen zerstören zu können. Und sie wurden danach zum Teil benutzt, um Menschen zu zerstören. Das, also ich fand den Umgang mit den Stasi-Akten ausgesprochen zynisch! Stefan Heym, als der Alterspräsident des Bundestages wurde. Am Vorabend, ich bin bald umgefallen vor Lachen, als ich hörte, Stefan Heym soll ein IM gewesen sein. Hat sich sofort auch als Irrtum herausgestellt. Aber es war erst mal ’ne Nachricht.

 

00:31:35

Bahr: Ja, ich bin ja auch dafür, dass man die Wissenschaft in die Lage versetzen muss und die Leute, die besonders persönlich interessiert sind, in die Lage versetzen muss, reinzugucken. Ich glaube, das war Eppelmann, der in die Akten geguckt hat, in seine Akten. Und nun sagt er: „Ich bin natürlich von Menschen enttäuscht worden, ich bin nicht schlauer geworden, ich bin nicht glücklicher geworden.“ Aber er hat es nun gesehen. Also, das soll jeder machen. Verstehen Sie, ich bin doch um alles in der Welt, nicht dafür, dass man die Geschichte vergisst. Ich bin im Gegenteil dafür, dass man die Geschichte behält.

 

00:32:22

Aber, ich sag jetzt mal was viel Schlimmeres: Also die industrielle Menschenvernichtung – Auschwitz – wird man auch in 500 Jahren noch wissen, kennen, diskutieren. Hoffentlich bleibt es eine Einmaligkeit! Aber ich darf doch nicht sagen: „Weil wir Auschwitz als Teil der deutschen Geschichte unauslöschlich haben, müssen wir uns jedes Mal umgucken, wenn wir eine Entscheidung für die Zukunft fällen, ob wir das auch dürfen, wegen Auschwitz. Das wäre doch entsetzlich! Es würde doch bedeuten, dass man indirekt diesen Verbrechern von damals noch eine Art von Mitspracherecht für heute und morgen zubilligt. Also, insofern muss man dafür sorgen, dass die Vergangenheit nicht die Zukunft belastet. Und ich sage nun nicht nur für das eigene Land, das sowieso! Insofern muss dieses Land gesunden! Gesunden wie alle anderen: die Engländer und die Franzosen und die Italiener und die Polen. Alle gehen ihren Weg. Und Deutschland soll allein nicht seinen eigenen Weg, in Kenntnis dessen, was die Geschichte auch an Belastungen mit sich bringt, gehen können? Finde ich unmöglich, weil Europa nicht gesunden kann ohne ein gesundes Deutschland.

 

00:34:03

Ensikat: Ne, da werden wir irgendwie wieder beim 9. November, diesem deutschen Datum. Warum bekennt man sich nicht zu so einem Datum?

Bahr: Ich kann bis heute nicht verstehen, wir haben so viele Denkmäler für vergangene Kriege und Tote und Mahnmäler für unsere Vergangenheit… ich kann nicht verstehen warum wir nicht ein Denkmal für die einzige, große, friedliche Revolution, die geglückt ist, nämlich die Überwindung der Mauer und die deutsche Einheit machen? Das fehlt! Warum? Das ist dann natürlich die Ostdeutsche, aber das ist doch egal, um Alles in der Welt. Das ist deutsches Verdinest.

Ensikat: Ja, wäre nicht der 9. November überhaupt das Datum, das Datum für einen Nationalfeiertag, es gibt kein deutscheres Datum als dieses. Das würde wirklich die deutsche Geschichte mit all seinen Schrecklichkeiten, aber eben auch mit der einmaligen Befreiung.

 

00:35:10

Bahr: Ja, weil es mehrere Anlässe gibt, sich an den 9. November zu erinnern. Aber das ist der Gipfel, der Triumph oder die Antwort oder jedenfalls ein Stück Wiedergutmachung, die die Deutschen an sich selber geleistet haben. Selbstverständlich müsste der 9. November der deutsche Nationalfeiertag sein.

Ensikat: Beim 3. Oktober hatte ich immer das Gefühl, die haben irgendein Datum gesucht, an dem die Deutschen nichts Schlimmes gemacht haben.

Bahr: Nein. Das ist viel einfacher. Der 3. Oktober ergab sich aus dem Interesse von Kohl. Den frühestmöglichen Zeitpunkt zu wählen, den die Verfassung gestattet, vorgezogene Wahlen zu machen. Bevor die DDR merkt, welche katastrophalen Folgen die Einführung der D-Mark zu diesen Bedingen am 1. Juli jenes Jahres hatte und das hat funktioniert. Unsere Fähigkeiten das Vorherzusehen waren fabelhaft, seine Antwort war das, das war nicht besonders fein, aber es war legitim. Aber im Prinzip bin ich auch der Auffassung, der 9. November wäre der richtige Termin.

 

00:36:20

Ensikat: Wir haben damals immer gesagt, wir halten, also die Ostler, halten Kohl für die D-Mark und er hält sich für Bismarck…und beide haben sich geirrt. Zugespitzt gesagt, könnte man sagen, bis 1990 waren wir zwei Staaten, seitdem sind wir zwei Völker.

Bahr: Würde ich entschieden widersprechen.

Ensikat: Ich hoffe!

Bahr: Wir sind wirklich ein Volk und haben ungeheure Fortschritte gemacht. Wir haben auf der anderen Seite in der mentalen Einigung nicht entfernt das erreicht, was wir uns vorgenommen haben.

Ensikat: Aber ich glaube, wir sind uns ähnlicher als wir sein möchten, eigentlich. Ich glaube, die Ähnlichkeiten sind viel größer, und das macht es gerade so kompliziert.

 

00:37:15

Bahr: Noch immer findet ein Exodus statt, noch immer ist nicht der Königsweg erkennbar, durch den wir die von der Verfassung vorgeschriebene Vergleichbarkeit der Lebensverhältnisse kriegen. Wenn wir alle Programme, die es bisher gibt, auf den Tisch legen, weitermachen, wird der Unterschied im Lebensstandard und in der Wirtschaftlichkeit nicht erreicht werden. Alles was die Wirtschaft verlangt hat, hat sie sowohl von Kohl wie von Schröder im Prinzip bekommen. Sie hat nichts davon geleistet, was sie versprochen hat, dass sie leisten würde, wenn sie es denn bekommt. Und das heißt, für mich das Schreckliche die Perspektivlosigkeit, dass man nicht sehen kann, wenn man das und das macht, kann man erwarten, dass das und das passiert. Das ist für mich das Schlimmste eigentlich.

 

00:38:26

Ensikat: Ja, und ich glaube, ein Fehler der Sache geht noch weiter zurück. Der geht eben darauf zurück, dass man meinte, auf die Intelligenz der Eingeborenen im Osten nicht angewiesen zu sein, und auf die Ideen der Leute. Es wurde ja, eigentlich wurde ja alles nach westdeutschem Muster in Ostdeutschland umgesetzt, bis zur letzten Durchführungsbestimmung. Und man hat eben dieses große Pfund, was hier vorhanden war, und ja auch zum Teil noch vorhanden ist, an Intelligenz und an Wissen und Kraft, das zu nutzen. Ich habe ja nun bis vor anderthalb Jahren ein Kabarett geleitet. Das hat ja 36 Jahre DDR überstanden, und hat gegen alle Erwartungen auch die 15 Jahre deutscher Einheit überstanden.

Bahr: Sie dürfen ruhig sagen, dass das Distel heißt.

 

00:39:18

Ensikat: Ja, das ist das Kabarett Distel. Und wir haben uns selbstverständlich auch vom Westen beraten lassen. Und auch gute Freunde haben uns immer wieder gesagt: „So, wie ihr das macht, das geht nicht.“ Und wir haben nur gesagt: „Lasst es uns versuchen.“ Und wir haben es versucht und haben eben mit unseren Mitteln es dazu gebracht, dass wir ein gesamtdeutsch anerkanntes Kabarett geworden, geblieben sind eigentlich. Und dass wir – wer kann das, welcher Betrieb kann das heute noch von sich sagen? – dass dort schwarze Zahlen geschrieben werden.

Bahr: Also, es könnte ja eine List der Geschichte sein, dass wir nun, nach 60 Jahren, seit dem Ende der Teilung zwei Ostdeutsche an der Spitze haben. Angela Merkel und Matthias Platzeck kommen beide aus Ostdeutschland. Und ich werde Ihnen was sagen: Die Bundesrepublik wird es nicht nur überleben, sondern sie wird hoffentlich merken, dass das gar nicht so schlecht ist und dass das dann funktioniert.

Ensikat: Es bleibt uns ja gar nichts anderes übrig, als zu hoffen, dass dieses letzte Aufgebot …

Bahr: Na, das haben Sie gesagt! Weil die aus dem Osten kommen, ist es doch nicht das letzte Aufgebot!

 

00:40:31

Ensikat: … Na ja, ich sehe ja nichts, was jetzt aus dem Westen kommen könnte. Also, und so dick ist unsere Personaldecke im Osten auch nicht. Aber ich hoffe, dass das mit zur Normalität führen kann. Dass man dann gar nicht mehr, also bei der nächsten Wahl nun gar nicht mehr fragt: Templin oder Miesbach?

Bahr: Ich finde eben, wenn wir zurückblicken aus diese Zeit seit 1945: sind nun 60 Jahre. Da hat unser Land ungeheuer Glück gehabt, dass wir das erreicht haben, was wir erreicht haben, ohne Krieg und ohne alles. Im Wesentlichen ohne Blutvergießen.

Ensikat: Dass wir diese Wende erlebt haben!

Bahr: Ungeheuerlich!

Ensikat: Das ist wirklich … Ohne Blutvergießen eben!

Bahr: Ja, und bei dieser Gelegenheit muss man natürlich auch noch sehen: Deutschland ist nun wirklich wieder die Mitte Europas geworden.

Ensikat: Und: Es muss keiner Angst haben vor uns.

Bahr: Keiner muss Angst haben. Nicht mal Luxemburg. Wir sind da an der Leine. Und der andere Punkt ist: Europa hat sich erweitert nach Osten. Und das hat die Mittellage Deutschlands wieder verstärkt. Also …

 

00:41:56

Ensikat: Wenn wir es erst schaffen, dass wir zu Polen, Tschechien das gleiche Verhältnis haben, wie zu Frankreich, dann kann man, glaube ich, wirklich von einer europäischen Einigung sprechen.

Bahr: Ja, dann kriegen wir vielleicht das, was Brecht uns gewünscht hat.

Ensikat: Brechts Kinderhymne: Anmut sparet, nicht noch Mühe, Leidenschaft nicht, noch Verstand, dass ein gutes Deutschland blühe, wie ein andres gutes Land. Und weil wir dies Land verbessern, lieben und beschirmen wir’s. Und das Liebste mag’s uns scheinen, so wie andern Völkern ihr’s. – Brecht war gar nicht so schlecht.

Bahr: Nein, nein!

Ensikat: Nicht? Der war aber ein Westdeutscher!

Bahr: Das Ende dieser Sendung! Das ist wirklich fabelhaft, das ist …

Ensikat: Der war noch ein Bayer.

Bahr: Aus Augsburg!

Ensikat: Augsburg, ja.

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