Filmstill zu "Blonder Tango"

Blonder Tango

Was bedeutete es, ab 1973 als Chilene im DDR-Exil zu leben? Gelang die Integration? Welche Herausforderungen gab es? Lothar Warnekes BLONDER TANGO (1985) beschäftigt sich mit den menschlichen Folgen vom Leben im Exil und thematisiert bleibende Einsamkeit, unerfüllte Wünsche und Alltagsrassismus. Der erstmals hochwertig digitalisiert vorliegende Film läuft im September 2023 – 50 Jahre nach dem chilenischen Militärputsch – u.a. im Berliner Kino Toni und im Filmmuseum Potsdam.

Kurzinhalt

Filmplakat zu "Blonder Tango"

BLONDER TANGO

(R: Lothar Warneke, 1985) Grafiker: Hans Eberhard Ernst

Der Chilene Rogelio (gespielt von Alejandro Quintana) emigriert infolge eines Militärputsches aus seinem Heimatland in die DDR. Dort lebt er sich ein, arbeitet als Beleuchter am Theater und erfährt Solidarität von Kolleginnen und Kollegen. Die Inspizientin Luise (Johanna Schall) ist sogar in ihn verliebt. Doch eigentlich ist Rogelio einsam. In dem „kalten Land“ fühlt er sich nicht angekommen. Zudem liebt er nicht Luise, sondern die Soubrette Cornelia (Karin Düwel), die seine Gefühle nicht erwidert. In Briefen an seine in Chile gebliebene Mutter gibt er sich glücklich und erfindet eine Scheinwelt. Immer mehr zieht sich Rogelio in Träumereien und Lügen zurück. Wirklichkeit und Illusion beginnen zu verschwimmen…

 Hier finden Sie die vollständigen Filmdaten.

Historischer Hintergrund: Militärputsch in Chile

Am 11. September 1973 schaute die Weltöffentlichkeit aufmerksam nach Chile: Das chilenische Militär griff unter der Führung des Generals Augusto Pinochet das Regierungsviertel in Santiago de Chile an. Der amtierende sozialistische Präsident Salvador Allende verschanzte sich. Aufgrund der ausweglosen Lage beging er Suizid. Pinochet errichtete eine Militärdiktatur, die von Verschleppung, Folter, Ermordung und zahlreichen weiteren Menschenrechtsverletzungen gekennzeichnet war. Tausende verließen das Land. Bereits kurz nach dem Putsch verkündete Erich Honecker, dass die DDR politisch Verfolgten Asyl gewähren wird. So kamen rund 2.000 chilenische Geflüchtete in die DDR, darunter viele Angehörige der sozialistischen Intelligenz und Kulturschaffende.

 

 

 

 

Filmstill zu "Blonder Tango"

Rüge vom Feuerwehrmann (Hans-Jochen Röhrig) für den rauchenden Bühnenbeleuchter Rogelio (Alejandro Quintana) in BLONDER TANGO (R: Lothar Warneke, 1985) Fotografen: Dieter Lück, Waltraut Pathenheimer

Filmstill zu "Blonder Tango"

Es ist kompliziert: Rogelio (Alejandro Quintana) und Luise (Johanna Schall) in BLONDER TANGO (R: Lothar Warneke, 1985) Fotografen: Dieter Lück, Waltraut Pathenheimer

Chile im DEFA-Film

Bei der DEFA entstanden am Spiel-, Dokumentar- und Trickfilmstudio zwischen 1975 und 1986 rund zwei Dutzend Filme, die Bezug zum Militärputsch in Chile nahmen und an denen chilenische Filmschaffende mitwirkten. Die Filme vermitteln facettenreiche Eindrücke vom Leben und Kunstschaffen im DDR-Exil. Unter anderem drehte der Chilene Juan Forch mehrere agitatorische Kurzfilme, die von der Wut über die politischen Geschehnisse im Heimatland zeugen. Dokumentarfilme – bspw. COPIHUITO (Günter Jordan, 1977) oder EINE CHILENISCHE HOCHZEIT (Rainer Ackermann, Walentin Milanow, 1977) – porträtieren chilenische Geflüchtete, zeigen Traditionen und Erinnerungen, DDR-Gegenwart und Zukunftshoffnungen. Am Spielfilmstudio drehte der Regisseur Orlando Lübbert unter dem Titel DER ÜBERGANG (1978) eine Fluchtgeschichte aus Chile über die Anden nach Argentinien. Hannelore Unterberg verfilmte mit ISABEL AUF DER TREPPE (1983) einen Stoff über chilenische Exil-Erfahrungen für ein junges Publikum.

 

 

Filmstill zu "Blonder Tango"

Ein verliebter Blick? Rogelio (Alejandro Quintana) und Cornelia (Karin Düwel) in BLONDER TANGO (R: Lothar Warneke, 1985) Fotografen: Dieter Lück, Waltraut Pathenheimer

Filmstill zu "Blonder Tango"

Sitzen gelassen: Rogelio (Alejandro Quintana) in BLONDER TANGO (R: Lothar Warneke, 1985) Fotografen: Dieter Lück, Waltraut Pathenheimer

Produktionsnotizen

BLONDER TANGO geht auf einen gleichnamigen, erstmals 1983 erschienenen Roman des in die DDR emigrierten chilenischen Schriftstellers Omar Saavedra Santis (1944–2021) zurück. Die Dreharbeiten erfolgten zwischen dem 2. Mai und 23. Juli 1985. Wichtiger Drehort war das Theater in Neustrelitz, das damals den Namen von Friedrich Wolf trug. Die in Chile spielenden Szenen wurden im bulgarischen Varna gedreht. Premiere feierte BLONDER TANGO am 10. April 1986 im Berliner Kino International.

Vom Roman zum Film

Die Dramaturgin Erika Richter schlug Regisseur Lothar Warneke eine Verfilmung von Saavedra Santis’ Roman vor. Von der tragisch-komischen Geschichte, die sich den menschlich-sozialen Folgen eines Lebens im Exil widmet, zeigte sich Warneke trotz der komplizierten literarischen Struktur der Vorlage mit ihren verschiedenen Erzählebenen begeistert. Ihn reizte, dass – anders als in den meisten anderen DDR-Gegenwartsstoffen – jemand von außen auf die DDR-Gesellschaft blickte und damit eine neue Perspektive einbrachte. Die Erarbeitung des Drehbuchs erfolgte in enger Abstimmung zwischen dem Autor, Richter und Warneke. Die Zusammenarbeit mit Saavedra Santis, der über eine andere Kunstauffassung als Warneke verfügte, empfand der Regisseur für seine eigene künstlerische Entwicklung rückblickend als gewinnbringend: „Ich wurde gewissermaßen aufgebrochen, nicht mehr weiter Filme in der Art zu machen, wie man sie in Mitteleuropa oder in Deutschland eben machte.“ (Warneke in „Die Schönheit dieser Welt“, 2012, S. 160)

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Regisseur Lothar Warneke im Gespräch mit Hauptdarsteller Alejandro Quintana während der Dreharbeiten zu BLONDER TANGO (R: Lothar Warneke, 1985) Fotografen: Dieter Lück, Waltraut Pathenheimer

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Assistenz-Regisseurin Doris Borkmann und Kameramann Thomas Plenert bei Dreharbeiten in Bulgarien für BLONDER TANGO (R: Lothar Warneke, 1985) Fotografen: Dieter Lück, Waltraut Pathenheimer

Hauptrolle für Alejandro Quintana

Die Hauptrolle wollte Warneke zwingend mit einem Chilenen besetzen. Im Zuge des Castings fiel die Wahl auf Alejandro Quintana (* 1951), der zu diesem Zeitpunkt bereits seit elf Jahren im DDR-Exil lebte. Quintana kam als angehender Schauspieler nach Rostock und war Gründungsmitglied der Exil-Theatergruppe Teatro Lautaro am Volkstheater. In BLONDER TANGO wirkte er zum einzigen Mal in einer DEFA-Produktion mit. In die Rolle des Rogelio konnte Quintana viele eigene Erfahrungen einbringen. Sein Bruder saß zum Zeitpunkt der Dreharbeiten in einem chilenischen Gefängnis. Quintanas authentisches Spiel wurde in den Filmkritiken zu BLONDER TANGO vielfach hervorgehoben: „[…] der weiß aus Verstand und Emotion, was er da spielt“ urteilte beispielsweise Günter Sobe am 16. April 1986 in der Berliner Zeitung. Trotz des Filmerfolgs blieb das Theater Quintanas künstlerische Heimat. Bereits in der DDR etablierte er sich als gefragter Regisseur in Rostock und Berlin, später u.a. auch in Cottbus und Heilbronn.

Universelle Exilerfahrungen: Ein Lied geht um die Welt

Als musikalisches Leitmotiv fungiert in BLONDER TANGO das vom österreichischen Opernsänger Joseph Schmidt (1904–1942) interpretierte Musikstück „Ein Lied geht um die Welt“. Schmidt sang den Schlager 1933 für den gleichnamigen Film von Richard Oswald ein. Unmittelbar nach der Filmpremiere emigrierte der Sänger, der jüdischen Glaubens war, aus Deutschland. Er starb 1942 nach Stationen in Österreich und Frankreich in einem Internierungslager in der Schweiz. In BLONDER TANGO bedeutet das Lied für Rogelio „Erinnerung und Heimweh, Resignation und Wut, Liebesschmerz und Trauer und Überlebenswillen“ (Erika Richter, apropos: Film 2002, S. 103). Für die Zuschauerinnen und Zuschauer hebt die Musik die geschilderten Exilerfahrungen aus dem Kontext des Chile-Putsches heraus. „Das Lied ist etwas, was über Chile und über Deutschland hinausgeht“ bemerkte Lothar Warneke und ergänzte: „Je mehr man mit einer Geschichte in eine Landschaft eingebunden ist, desto mehr ist auch die Gefahr des Provinzialismus anwesend. Hier wird diese Gefahr zum Beispiel durch diese Musik aufgebrochen, die Geschichte wird welt-weit gemacht.“ (Warneke in „Die Schönheit dieser Welt“, 2012, S. 164)

Filmstill zu "Blonder Tango"

Gesprächspartner: der frühere Spanienkämpfer Hiller (Gerhard Meyer) und Rogelio (Alejandro Quintana) in BLONDER TANGO (R: Lothar Warneke, 1985) Fotografen: Dieter Lück, Waltraut Pathenheimer

Filmstill zu "Blonder Tango"

Austausch gegen die Einsamkeit: Nachbarin Hube (Trude Brentina) unterhält sich mit Rogelio (Alejandro Quintana) in BLONDER TANGO (R: Lothar Warneke, 1985) Fotografen: Dieter Lück, Waltraut Pathenheimer

Echo: Viel Lob, aber kein Kassenschlager

Wie Lothar Warneke das Thema Exil in BLONDER TANGO behandelte, fand in der DDR-Filmkritik große Beachtung. Der Film wurde mit viel Lob bedacht, Horst Knietzsch sprach gar von „hinreißende(r), anspruchsvolle(r) Filmkunst“ (ND, 12.4.1986). Auf dem 4. Nationalen Spielfilmfestival der DDR erhielt BLONDER TANGO zusammen mit Roland Gräfs DAS HAUS AM FLUSS (1986) die Auszeichnung als bester Film. Schauspielpreise gingen an Alejandro Quintana und Johanna Schall. Lothar Warneke wurde mit dem Findlingspreis bedacht. Mit etwas mehr als 280.000 Besucherinnen und Besuchern im Kino, wurde BLONDER TANGO kein großer Erfolg an der Kinokasse (zum Vergleich: DAS HAUS AM FLUSS erreichte rund 700.000 Menschen; erfolgreichster Film der DDR-Kinos war 1986 die westdeutsche Produktion OTTO – DER FILM mit weit mehr als vier Millionen Zuschauerinnen und Zuschauern). Anders als vielen anderen DEFA-Produktionen blieb BLONDER TANGO in den 1990er-Jahren sowie im neuen Jahrtausend eine Wiederentdeckung auf DVD verwehrt. Aufgrund fehlender Musikrechte konnte der Film lange Zeit kaum gezeigt werden.

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Keine gute Beziehung: Kollege Riesling (Helmut Straßburger) und Rogelio (Alejandro Quintana) in BLONDER TANGO (R: Lothar Warneke, 1985) Fotografen: Dieter Lück, Waltraut Pathenheimer

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Blick nach Chile: Rogelios Mutter (Steffie Spira) in BLONDER TANGO (R: Lothar Warneke, 1985) Fotografen: Dieter Lück, Waltraut Pathenheimer

Mythos vom ‚Goldenen Exil‘ – Neuentdeckung in Chile

In Chile, wo das Pinochet-Regime bis heute in den Schulen kaum behandelt wird und generelle Uneinigkeit über die Bewertung dieser Zeit besteht, wurde BLONDER TANGO im Frühjahr 2012 im Rahmen einer zweiwöchigen DEFA-Retrospektive erstmals vorgeführt. Die Wissenschaftlerin Claudia Sandberg glaubt, dass ein Film wie BLONDER TANGO in Chile dazu beitragen kann: „das Klischee zu korrigieren, dass Chilenen, die nach dem Putsch ins Ausland flüchteten, dort ein luxuriöses Leben führten.“ (Das Filmblatt, 60/2016, S. 52). Wenn sich der Tag des Putsches im September 2023 zum 50. Mal jährt, wird BLONDER TANGO erneut in Chile präsentiert – neben Kinovorführungen ist auch eine Ausstrahlung beim chilenischen Fernsehsender ARTV geplant.

Verfasst von Philip Zengel. Mitarbeit: Alexander Arndt. (August 2023)

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