Filmstill zu "Dein unbekannter Bruder"

Dein unbekannter Bruder

Seit kurzem ist in der DEFA-Filmwelt auf YouTube die digital-restaurierte Fassung von DEIN UNBEKANNTER BRUDER (R: Ulrich Weiß, 1981) verfügbar, eine der stilistisch außergewöhnlichsten DEFA-Produktionen der letzten DEFA-Dekade, die im Zuge ihrer Veröffentlichung kontrovers aufgenommen wurde.

Kurzinhalt

Filmplakat zu "Dein unbekannter Bruder"

DEIN UNBEKANNTER BRUDER

(R: Ulrich Weiß, 1981) Grafiker: Gerhard Rappus

Hamburg 1935. Widerstand gegen die Nationalsozialisten regt sich. „Seid einig!“ malen Männer an eine Wand, ehe sie von der Gestapo verhaftet werden. Man hat sie verraten. Die Szene spielt sich in der Erinnerung von Arnold Clasen (gespielt von Uwe Kockisch) ab, der nach einer Haft im Lager als Kinovorführer arbeitet. Früh positionierte er sich gegen das Nazi-Regime. Nun hat er Angst, lebt zurückgezogen, will nicht auffallen. Er sucht die Freundschaft zu seinem Kontaktmann, dem Kommunisten Walter (Michael Gwisdek). Doch kann er ihm vertrauen? Es kommt zu Verhaftungen in der Widerstandsbewegung... 

 Hier finden Sie die vollständigen Filmdaten.

Produktionsnotizen – Willi Bredel als Ausgangspunkt

DEIN UNBEKANNTER BRUDER entstand frei nach Motiven des gleichnamigen Romans von Willi Bredel, den dieser in den 1930er-Jahren im Exil verfasste. Die Idee zum Film geht auf den Schriftsteller Wolfgang Trampe (1939–2025) zurück, der erstmals für die DEFA arbeitete. Trampe war es ein Anliegen zu ergründen, wie Menschen sich gefühlt haben, die zwischen 1933 und 1945 Widerstand leisteten angesichts einer unüberwindlich scheinenden Übermacht (zitiert aus einem Gespräch mit Ilse Jung in Kino-DDR 5/1982). Dabei ging es ihm nicht darum ein weiteres Heldenbild des Widerstands zu kreieren: Angst, Verzweiflung, die Schrecken der Isolation sollten sichtbar werden – ein „Psychogramm der Illegalität“ (Heinz Kersten, Tagesspiegel, 30. Mai 1982).

Gedreht wurde DEIN UNBEKANNTER BRUDER zwischen dem 18. Februar und 29. Mai 1981, u.a. in Görlitz, Dresden und in Berlin-Oberschöneweide. Die offizielle Premiere fand am 13. Mai 1982 im Berliner Kino Colosseum statt. Zuvor lief der Film in der DDR bereits bei der zweiten Ausgabe des Nationalen Spielfilmfestivals.

Filmstill zu "Dein unbekannter Bruder"

Geheime Liebe: Arnold (Uwe Kockisch) und Renate (Jenny Gröllmann). Fotografin: Christa Köfer

Filmstill zu "Dein unbekannter Bruder"

Freunde? Arnold Clasen (Uwe Kockisch) mit Walter (Michael Gwisdek). Fotografin: Christa Köfer

Regie: Ulrich Weiß

Ulrich Weiß (1942–2022), der seine Regie-Laufbahn beim Dokumentarfilm begann, wechselte in der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre zum Spielfilm. Sein vielversprechendes Œuvre blieb schmal. Bereits seine Kinder- und Jugendfilme TAMBARI (1976) und BLAUVOGEL (1979) stachen aus dem DEFA-Kanon hervor – und wurden mitunter scharf kritisiert. Das setzte sich bei DEIN UNBEKANNTER BRUDER (1981) und OLLE HENRY (1983) fort. Erst in der Rückschau werden die Filme als wesentliche Werke des europäischen Films gewertet (vgl. Erika Richter, apropos:Film, 2003, S. 174).

Weiß war jemand, der egal wie hart ihm der Wind entgegenschlug, sich im DDR-System nicht verbiegen ließ. „Für das als wahr erkannte Argument war Ulrich Weiß bereit, sich bedingungslos einzusetzen. Als kämpfte er um Leben und Tod“, erinnerte sich Wolfgang Trampe an den Filmemacher (ebd., S. 159). Nach vielen Kämpfen und auch Niederlagen, die Ulrich Weiß während seiner Laufbahn einstecken musste, brach seine Filmografie 1991 mit MIRACULI ab, dem ersten fertiggestellten Projekt nach acht Jahren verhinderter Filmideen. „Wie sehr verhinderter Erfolg krank macht und nichtgedrehte Filme am Talentpotential nagen, hat jeder unbeugsame Babelsberger erlebt. Doch niemand verkörpert das so drastisch wie Ulrich Weiß“, bemerkte Autor Thomas Knauf (ebd., S. 166).

 

 

 

 

Filmstill zu "Dein unbekannter Bruder"

Ulrich Weiß im Gespräch mit Uwe Kockisch während der Dreharbeiten. Fotografin: Christa Köfer

Filmstill zu "Dein unbekannter Bruder"

Ulrich Weiß im Austausch mit Michael Gwisdek. Fotografin: Christa Köfer

Jenseits der Norm

Der sogenannte antifaschistische Film hat bei der DEFA eine lange Tradition. Einige der größten Filmerfolge des Studios zählen zu diesem Genre, darunter DIE MÖRDER SIND UNTER UNS (1946) oder EHE IM SCHATTEN (1947). Zwei Jahre vor DEIN UNBEKANNTER BRUDER erzielte DIE VERLOBTE (1980) ein beachtliches internationales Echo. Mit Ulrich Weiß wagte sich nun erstmals ein Regisseur der jüngsten Filmemacher-Generation der DEFA, der diesen Abschnitt deutscher Geschichte nicht bewusst miterlebt hatte, an einen Stoff aus der Zeit des Nationalsozialismus. Ulrich Weiß ging das traditionelle Thema neuartig an, fand eine ungewöhnliche Bildsprache und einen Stil, der mit einer extrem statischen Kamera aufwartete und mitunter an eine Inszenierung des epischen Theaters erinnerte. Bei einem solchen Stilwillen fühlte sich der bedeutendste DEFA-Filmkritiker aus der BRD, Heinz Kersten, an Gerhard Kleins DER FALL GLEIWITZ (1961) erinnert, der zwar anders, aber ähnlich schonungslos, entgegen den Sehgewohnheiten inszeniert wurde. Ulrich Weiß war daran gelegen, mit seiner Inszenierung ein neues Publikum zu erreichen, wie er im Gespräch mit Felicitas Knöfler festhielt: „Mir ging es darum, jene Zeit für die heute Lebenden zu interpretieren, vor allem für die, die sie gleich mir nicht mehr persönlich erlebt haben.“ (Tribüne, 6. Mai 1982)

Filmstill zu "Dein unbekannter Bruder"

Aufmarsch der Nationalsozialisten. Fotografin: Christa Köfer

Filmstill zu "Dein unbekannter Bruder"

Gezeichnet: Arnold Clasen (Uwe Kockisch) im Verhör. Fotografin: Christa Köfer

Musik: Peter Rabenalt

Die Arbeitsbeziehung zwischen dem Komponisten Peter Rabenalt (1937–2024) und dem Regisseur Ulrich Weiß kann zu den fruchtbarsten und langlebigsten der DDR-Filmgeschichte gezählt werden. Bereits 1972 arbeiteten beide für den Dokumentarfilm MONTAGE ADÉ... – EIN BRIGADIER ERZÄHLT zusammen. Ausnahmslos für alle Spielfilme von Weiß schuf Rabenalt die Musik. Im Jahr 2002 erinnerte sich der Musiker an die außergewöhnliche Zusammenarbeit: „Die filmmusikalischen Arbeiten mit Ulrich Weiß sind auf eine Weise entstanden, die selten praktiziert wird und vielfach als utopisch gilt“ (apropos:Film, 2003, S. 163) – gemeint ist, dass Weiß bereits während der Arbeit am Drehbuch „lange und immer wieder neue Gespräche“ mit seinem Komponisten über die spätere Filmmusik führte (ebd., S. 161). Auch der Musik zu DEIN UNBEKANNTER BRUDER gingen intensive Auseinandersetzungen voran, um ein ausgeklügeltes Konzept zu entwickeln: „Der fahle Klang einer Bassflöte kriecht, mit Harfenakkorden akzentuiert, langsam aus den dunklen Straßenecken nächtlicher Aktionen und verdichtet sich mit anderen Instrumenten wie der Zweifel am besten Freund, aber auch wie die innere Zerstörung des Verräters.“ (ebd., S. 162)

Fast in Cannes

Das ausgeprägte Stilbewusstsein des jungen DEFA-Regisseurs blieb international nicht unbeachtet. DEIN UNBEKANNTER BRUDER lief im Januar 1982 beim Max-Ophüls-Festival in Saarbrücken und erhielt dort eine Einladung für die Internationalen Filmfestspiele in Cannes. Ein Ritterschlag möchte man meinen. Doch die DDR-Politik bekam anhand der Anerkennung aus dem „nicht-sozialistischen Ausland“ kalte Füße. „So waren wir nicht“ soll Politbüro-Mitglied Hermann Axen, ein früherer kommunistischer Widerstandskämpfer, der während des Holocausts insgesamt acht Jahre inhaftiert war, bei einer Vorführung des Films in Wandlitz gesagt haben und damit den Stein ins Rollen gebracht haben. DEIN UNBEKANNTER BRUDER wurde mit einer Exportsperre belegt, die den Einsatz in Frankreich unmöglich machte. Dass sein Film nicht in Cannes laufen würde, erfuhr Weiß eher beiläufig während des Nationalen Spielfilmfestivals in Karl-Marx-Stadt Ende April 1982. Filmminister Horst Pehnert soll ihm auf der Toilette des Festivalhotels erzählt haben, dass der Film „aus Kostengründen“ nicht in Cannes präsentiert werden könne.

Filmstill zu "Dein unbekannter Bruder"

Gewöhnsbedürftiges Arbeitsumfeld. Arnold (Uwe Kockisch) mit Kinoleiterin Fritsche (Karin Gregorek). Fotografin: Christa Köfer

Filmstill zu "Dein unbekannter Bruder"

Die Isolation setzt Arnold (Uwe Kockisch) zu. Fotografin: Christa Köfer

Ulrich Weiß im Fokus der Staatssicherheit

Bereits vor der Fertigstellung des Films war es wiederkehrend zu Problemen gekommen. Dass die Verfilmung überhaupt starten konnte, führte Weiß später auf das Engagement von Bredels Witwe Maj (1914–2001) zurück, die als Fürsprecherin des Projekts auftrat. Mit einigen Auflagen zur Veränderung des Drehbuchs – u.a. durfte der Verräter aus den eigenen Reihen am Ende nicht von seinen Genossen ermordert werden – konnten die Dreharbeiten schließlich starten. Nach Sichtung der ersten Muster des gedrehten Materials änderte sich im Studio das Klima. Weiß erinnerte sich später: „Ich musste zu Mäde [DEFA-Generaldirektor]. Er sagte, er sei merkwürdig berührt von den Mustern, die er gesehen hat. Und ich musste zwei Szenen noch einmal drehen, in völlig veränderter Form. Sonst wäre der Film abgebrochen worden.“ (zitiert nach Axel Geiss, Repression und Freiheit, S. 154f). Zugleich begann die Staatssicherheit mit der Operativen Personenkontrolle „Bruder“ gegen Ulrich Weiß, die seine politisch-ideologische Haltung überprüfen sollte und weit über die Dreharbeiten hinaus bis ins Jahr 1985 fortgesetzt wurde.

Filmstill zu "Dein unbekannter Bruder"

In Freiheit: Walter (Michael Gwidek) und Arnold (Uwe Kockisch). Fotografin: Christa Köfer

Filmstill zu "Dein unbekannter Bruder"

In Gefangenschaft: Arnold (Uwe Kockisch) blickt zurück. Fotografin: Christa Köfer

Gespaltenes Echo

Die DDR-Filmkritik reagierte sehr unterschiedlich auf Ulrich Weiß‘ Film. Das Echo reichte von Begeisterung über Irritation bis Verriss. Zu den Begeisterten zählte u.a. Fred Gehler, der in einer Sendung von „Atelier und Bühne“ (25. April 1982) zu dem Schluss kam: „Als ich den Film gesehen, verspürte ich große Lust, ihn gleich noch einmal zu sehen“ und Jutta Voigt resümierte in der Wochenzeitung „Sonntag“: „Selten habe ich aus einem DEFA-Film so viele Bilder nicht vergessen wie aus diesem.“ (Ausgabe 22/1982) Deutlich kritischer blickte die „junge Welt“ auf den Film und adressierte mit Blick auf die Inszenierung eine ganze Reihe an Fragen an die Filmemacher: „Warum werden beispielsweise die Antifaschisten schon vom äußerlichen Habitus wie Leute aus einem Kriminalreißer angelegt? Weshalb sind fast ausschließlich gefahrvolle Einzelaktionen im Blickfeld, wird nichts spürbar von der Klassensolidarität der Arbeiter? Lässt sich mit einer solchen Gestaltungmethode die ganze Gefährlichkeit des Faschismus überhaupt erfassen?“ (Stolze, 14. Mai 1982).

Beim DDR-Kinopublikum fand der Film lediglich eine geringe Resonanz. Nur rund 39.000 Besucherinnen und Besucher standen nach drei Monaten Kinolaufzeit zu Buche. Das dürfte insbesondere an wenig Werbemaßnahmen und einem sehr zurückhaltenden Einsatz des Films seitens des Progress-Filmverleihs gelegen haben. Zumindest beim DDR-Spielfilmfestival wurde der Film vom Publikum viel beachtet. Hans-Dieter Tok erinnerte sich an eine intensive Diskussion nach der Vorführung, bei der „mehr Für als Wider“ spürbar war (vgl. Wochenpost, 4. August 1982).

Verfasst von Philip Zengel. (Juni 2025)

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