Die Reise nach Sundevit
1925 wurde mit Benno Pludra einer der renommiertesten Schriftsteller für Kinder- und Jugendliteratur der DDR geboren. 100 Jahre später erscheint seine von der DEFA verfilmte Geschichte DIE REISE NACH SUNDEVIT (R: Heiner Carow, 1965/66) in der Edition Film- und Fernsehjuwelen wieder auf DVD.
Kurzinhalt

DIE REISE NACH SUNDEVIT
(R: Heiner Carow, 1965 - 1966) Grafiker: Fred Westphal
Tim (gespielt von Ralf Strohbach) ist als Sohn eines Leuchtturmwärters in den Sommerferien viel allein. Er freut sich daher sehr, als eine Kindergruppe unweit entfernt ein Zeltlager aufschlägt. Als die Kinder weiterziehen wollen, laden sie ihn ein, mitzukommen. Tims Eltern geben ihr Einverständnis. Doch vorher soll er für sie einen Botengang erledigen. Aus dieser Aufgabe resultiert eine weitere und auch danach schließen sich für den hilfsbereiten Tim weitere Pflichten an. Bei aller Einsatzbereitschaft droht er den Ausflug mit den anderen Kindern zu verpassen. Wird er rechtzeitig an den Strand zurückkehren?
Produktionsnotizen
Regisseur Heiner Carow drehte DIE REISE NACH SUNDEVIT zwischen dem 20. Juli 1965 und dem 16. Januar 1966. Die Außenaufnahmen entstanden überwiegend am Ostseestrand von Ahrenshoop und in Warnemünde. Am 23. April 1966 eröffnete DIE REISE NACH SUNDEVIT die 1. Nationale Kinder- und Jugendfilmwoche der DDR in den Goethe-Lichtspielen in Halle (Saale) und feierte damit zugleich Uraufführung in Anwesenheit von Heiner Carow, Filmkind Ralf Strohbach, Autor Benno Pludra und dem Schauspieler Arno Wyzniewski.

Alleien spielen am Strand ist für Tim auf Dauer langweilig. Fotograf: Horst Blümel

Tim wohnt mit seinen Eltern unweit des Leuchtturms in Strandnähe. Fotograf: Horst Blümel
In den Wehen des 11. Plenums
Die Endphase der Produktion fiel in die Zeit des 11. Plenums des Zentralkomitees der SED im Dezember 1965, in dessen Folge ein Großteil der Jahresproduktion des DEFA-Studios für Spielfilme verboten wurde. Auch DIE REISE NACH SUNDEVIT wurde noch einmal überprüft. Diskutiert wurde insbesondere der Einsatz der Beat-Musik von Wolfgang Ziegler, die u.a. gleich zu Beginn des Films ertönt. Letztlich konnte die Musik nach einigen Änderungen im Film verbleiben.
Der DEFA-Historiker Ralf Schenk verwies anlässlich der Berlinale-Retrospektive „Deutschland 1966“ im Jahr 2016 darauf, dass DIE REISE NACH SUNDEVIT unter besonderer Beobachtung stand und nachträgliche Dreharbeiten notwendig waren: „Dass ein Kind in der DDR mit dem Gefühl von Einsamkeit ringt, dass viele Erwachsene den Jungen nur für eigene Zwecke ausnutzen, dass er auf seiner Odyssee auf der Suche nach Trost und Hilfe fast ausschließlich auf Selbstgerechte, Verbitterte und Gedankenlose trifft (...) muss durch nachgedrehte Szenen, u.a. mit einem freundlichen Volkspolizisten, entschärft werden.“ (zitiert nach F.-B. Habel „Das große Lexikon der DEFA-Spielfilme, S. 714)
Regie: Heiner Carow

Heiner Carow
während der Dreharbeiten zu DIE REISE NACH SUNDEVIT (R: Heiner Carow, 1965/66) Fotograf: Horst Blümel
Die Filme Heiner Carows zeichnen sich durch große Emotionen und das wiederkehrende Motiv der Liebe aus. Immer wieder tauchte der Regisseur in die Gedanken- und Gefühlswelten junger Leute ein. Wiederholt schaffte er es hunderttausende Zuschauerinnen und Zuschauer zu berühren – DIE LEGENDE VON PAUL UND PAULA (1972), BIS DASS DER TOD EUCH SCHEIDET (1979), COMING OUT (1988/89).
Neben den genannten Klassikern machen Filme mit jungen Helden einen Teil seiner Filmografie aus. Gleich zu Beginn seiner Laufbahn inszenierte Carow am DEFA-Studio für Spielfilme mit SHERIFF TEDDY (1957) und SIE NANNTEN IHN AMIGO (1959) zwei Filme für Kinder und Jugendliche. Nach zwei künstlerisch wenig geglückten Filmen für ein erwachsenes Publikum, die Carow später gern als ‚schwarze Schafe‘ in seinem Werk bezeichnete, widmete er sich 1965/66 mit DIE REISE NACH SUNDEVIT erneut einem Stoff mit einer kindlichen Hauptfigur und etablierte sich mit diesem Erfolg als gefragter Regisseur. Den kleinen Tim bezeichnete Carow – neben dem Jungen aus IKARUS sowie Paula und Sonja aus BIS DASS DER TOD EUCH SCHEIDET – später als seine liebste Filmfigur: „Sie mögen tragisch sein, aber sie resignieren eigentlich nie“ hielt er über die Gemeinsamkeit der Lieblinge fest (vgl. Knut Elstermann befragt ostdeutsche Filmstars, S. 82).

Für die Aufnahme muss alles passen: Reifenspuren-Entfernung mit dem Besen bei den Dreharbeiten. Fotograf: Horst Blümel

Das Team um Kameramann Jürgen Brauer (in der Hocke) bei Aufnahmen am Ostseestrand. Fotograf: Horst Blümel
Eine Geschichte von Benno Pludra
An Benno Pludras (1925–2014) Erzählungen kam in der DDR kein Kind vorbei. Im DEFA-Dokumentarfilm AUSKUNFT ÜBER PLUDRA (R: Wolfgang Bartsch, 1976) berichtete der Autor, dass für eine gute Geschichte, die von Kindern mit Interesse verfolgt wird, ein Konflikt zwischen Kind und Erwachsenenwelt essenziell sei: „Kinder brauchen Bücher mit tiefen menschlichen Konflikten (...) Die härtesten Konflikte für ein Kind ergeben sich – wie ich das sehe – aus dem Zusammenprall mit der Erwachsenenwelt.“ Pludra ergänzte: „Man muss ihnen [den Kindern] möglichst früh realistische Geschichten erzählen, um sie vorzubereiten, auf das was später kommt.“
Die Werke Pludras wurden in vier Jahrzehnten DEFA-Filmgeschichte so oft verfilmt wie von kaum einem anderen Schriftsteller. Neben DIE REISE NACH SUNDEVIT entstanden: SHERIFF TEDDY (R: Heiner Carow, 1957), EIN SOMMERTAG MACHT KEINE LIEBE (R: Herbert Ballmann & Gerhard Klein, 1960), LÜTT MATTEN UND DIE WEISSE MUSCHEL (R: Herrmann Zschoche, 1963), TAMBARI (R: Ulrich Weiß, 1976), INSEL DER SCHWÄNE (R: Herrmann Zschoche, 1982), DAS HERZ DES PIRATEN (R: Jürgen Brauer, 1986/87) sowie die Trickfilme BOOTSMANN AUF DER SCHOLLE (R: Werner Krauße, 1962) und HEINER UND SEINE HÄHNCHEN (R: Klaus Georgi, 1963).
Auch für das DDR-Fernsehen wurden Stoffe Pludras verfilmt, darunter erneut unter der Regie von Heiner Carow die mittellange Produktion JEDER HAT SEINE GESCHICHTE (1965) mit Angelica Domröse in einer Doppelrolle. Der Film entstand nur wenige Monate vor DIE REISE NACH SUNDEVIT. Carow griff dafür bereits auf Teile des Sundevit-Filmstabs zurück: Jürgen Brauer an der Kamera und Evelyn Carow im Schnitt. Brauer bezeichnete diese Arbeit später in einem Zeitzeugengespräch mit der DEFA-Stiftung als „Film zum Kennenlernen und Ausprobieren“, die in DIE REISE NACH SUNDEVIT ihre erfolgreiche Fortsetzung fand.

Mit dem Fahrrad radelt Tim durch die mecklenburgische Landschaft... Fotograf: Horst Blümel

... und wird immer wieder angehalten und um Unterstützung gebeten. Fotograf: Horst Blümel
Dramaturgie: Gudrun Deubener
Für die Dramaturgie bei DIE REISE NACH SUNDEVIT zeichnete Gudrun Deubener (geb. Rammler; 1931–2009), die als eine der wichtigsten Filmschaffenden für die Produktion von Kinder- und Jugendfilmen in der DDR gilt. In der Publikation Familienalbum derer, die im DEFA-Studio für Spielfilme Filme für Kinder gemacht haben, würdigte Ulrike Odenwald (=Walter Beck) die Dramaturgin und Autorin mit den Worten: „Wer vom DEFA-Spielfilm für Kinder spricht, muss von Gudrun Deubener sprechen (...) Ihre Filmografie gleicht nahezu dem halben Katalog der Gesamtproduktion. Bedenkt man zudem, dass in den Dramaturgengruppen des Studios und bei Abnahmen über alle Filme in jeder ihrer Entwicklungsstadien diskutiert wird, darf man unterstellen, dass ihre Meinung auch der anderen Hälfte zufließt.“ (S. 209) Bereits Deubners allererstes Filmprojekt bei der DEFA war mit SHERIFF TEDDY (1957) eine Benno-Pludra-Verfilmung unter der Regie von Heiner Carow. Die Geschichten des Autors ließen Deubener nicht mehr los. „Benno Pludras Bücher für Kinder üben auf sie eine große Anziehungskraft aus“ (ebd., S. 213), wusste Walter Beck zu berichten. An vielen der folgenden DEFA-Verfilmungen von Pludras Erzählungen war Deubener in den folgenden Jahren beteiligt.

Der Soldat (Arno Wyzniewski) ist wenig erfreut, Tim im Sperrgebiet zu entdecken. Fotograf: Horst Blümel

Schweres Geschütz war notwendig, um Tim einzuholen. Fotograf: Horst Blümel
Echo: Ein Film von eindringlicher Schönheit

Ralf Strohbach
ist Tim Tammer in DIE REISE NACH SUNDEVIT (R: Heiner Carow, 1965/66) Fotograf: Horst Blümel
DIE REISE NACH SUNDEVIT zählt bis heute zu den größten künstlerischen Erfolgen in der langen Reihe von DEFA-Spielfilmproduktionen für Kinder und Jugendliche. Knapp 30 Jahre nach der Uraufführung sprach Klaus Wischnewski von einem Film „von eindringlicher Schönheit und nachhaltiger Wirkung auf kleine und große Zuschauer“ (In: Das zweite Leben der Filmstadt Babelsberg, S. 214). Regisseur Rainer Simon hob in seiner Besprechung in den Filmwissenschaftlichen Mitteilungen 3/4 des Jahres 1966 die Arbeit des Kameramanns Jürgen Brauer hervor: „[Brauer] findet treffende Perspektiven und Stimmungen, die psychischen Situationen Tims zu enthüllen“. Immer wieder wird die Leistung des Kinderdarstellers Ralf Strohbach hervorgehoben. Für Ursula Frölich schien es in der Wochenpost 24/1966 so, als habe Pludra diesen Jungen bereits gekannt, als er das Buch schrieb. Horst Knietzsch ließ sich in seiner Besprechung zu den Worten „Ralf Strohbach (...) ist ein Vergnügen“ hinreißen (nd, 24.4.1966, S. 6). Für das talentierte Kind blieb es die einzige Filmrolle. Er fuhr später zur See und war zuletzt als Industriekletterer tätig. Er starb bereits 1996 bei einem Arbeitsunfall.
Verfasst von Philip Zengel. (Januar 2025)