Filmstill zu "Jakob der Lügner"

Jakob der Lügner

Die digital restaurierte Fassung des oscarnominierten DEFA-Spielfilms JAKOB DER LÜGNER (R: Frank Beyer, 1974) feiert auf der Berlinale ihre Premiere. Mit Mitteln aus dem Förderprogramm Filmerbe von Filmförderungsanstalt (FFA), Bund und Ländern wurde die Digitalisierung an der renommierten Filmrestaurierungseinrichtung „L’immagine Ritrovata“ im italienischen Bologna durchgeführt. Die Veranstaltung findet am 23. Februar 2023, 16:00 Uhr, im Kino International statt. Tickets sind über die Berlinale erhältlich.

Kurzinhalt

Filmplakat zu "Jakob der Lügner"

JAKOB DER LÜGNER

(R: Frank Beyer, 1974) Grafiker: Erhard Grüttner

Der während des Zweiten Weltkriegs in ein von Deutschen errichtetes Ghetto in Osteuropa deportierte Jude Jakob Heym (gespielt von Vlastimil Brodský) wird nach Anbruch der Sperrstunde von einem Wachposten auf der Straße entdeckt. Jakob soll auf dem Revier eine Bestrafung erhalten. Dort hört er durch eine offene Tür die Nachricht, dass die Rote Armee erfolgreich vorrückt. Als der wachhabende SS-Mann (Hermann Beyer) Jakob verschont, steht er vor der Frage, wie er mit der Hoffnung gebenden Erkenntnis umgehen soll. Mit wem soll er die Freude teilen? Wird man ihm glauben oder ihn für einen Spitzel halten? Jakob erfindet ein Radio und teilt sein Wissen mit Micha (Henry Hübchen). Die Kunde vom Radio verbreitet sich im gesamten Lager, auch Jakobs Freund Kowalski (Erwin Geschonneck) lässt sich berichten. Jakob steht unter Druck, immer neue Meldungen zu erfinden. Aus Hoffnung wird Illusion. Traum und Wirklichkeit verschmelzen…

 Hier finden Sie die vollständigen Filmdaten.

Idee: Jurek Becker

Die Filmidee für JAKOB DER LÜGNER geht auf den Schriftsteller Jurek Becker zurück, der in den 1930er-Jahren in Łódź als Sohn jüdischer Eltern geboren wurde und seine frühe Kindheit ab 1939 im Ghetto Litzmannstadt verbringen musste. Das genaue Geburtsdatum Jurek Beckers ist unbekannt, da sein Vater ihn älter machte, um eine Deportation zu verhindern. 1943 kam Becker mit seiner Mutter ins Konzentrationslager nach Ravensbrück. Die Mutter überlebte nicht, der Vater fand seinen Sohn nach Kriegsende wieder. Eigene Erinnerungen an die Kindheitsjahre hatte Jurek Becker kaum. Sein Vater erzählte ihm später aus dieser Zeit. Die Frage, ob JAKOB DER LÜGNER autobiografisch geprägt sei oder eigene Erinnerungen enthalte, verneinte Jurek Becker konsequent.

Filmausschnitt aus JAKOB DER LÜGNER (R: Frank Beyer, 1974)

Ein Projekt für einen Nachwuchs-Regisseur?

Das von Jurek Becker verfasste Exposé zu JAKOB DER LÜGNER lag dem DEFA-Studio für Spielfilme bereits 1963 vor und wurde in der Künstlerischen Arbeitsgruppe „Heinrich Greif“ unter Leitung des damaligen DEFA-Chefdramaturgen Klaus Wischnewski mit den Regisseuren Frank Beyer, Ralf Kirsten, Frank Vogel und Konrad Wolf besprochen. Die Gruppe galt zu dieser Zeit als politisch unzuverlässig und hatte in Beyers Erinnerungen in DDR-Funktionärskreisen den Ruf „Zentrum der ideologischen Konterrevolution“ (aus: ‚Regie: Frank Beyer’, S. 42) zu sein. 1966 wurde sie aufgelöst.

In der Arbeitsgruppe wurde entschieden, JAKOB DER LÜGNER dem Nachwuchs-Regisseur Kurt Barthel als erste eigene Regiearbeit anzuvertrauen. Barthel war zuvor als Regie-Assistent und Autor an Konrad Wolfs DER GETEILTE HIMMEL (1964) beteiligt. Wenige Monate später gab Barthel, der mit dem Stoff nicht warm wurde, JAKOB DER LÜGNER wieder ab, um das Projekt FRÄULEIN SCHMETTERLING (1965/66 + 2020) zu realisieren. Wischnewski fragte daraufhin Frank Beyer, der bereits zuvor Interesse an einer Verfilmung zeigte, aufgrund der laufenden Produktion von SPUR DER STEINE (1966) aber nicht als Regisseur in Frage kam. Diesmal sagte Beyer zu. Noch während der Post-Produktion von SPUR DER STEINE begannen Jurek Becker und Frank Beyer mit der Ausarbeitung des Drehbuchs von JAKOB DER LÜGNER und stellten dieses im Dezember 1965 fertig – kurz vor dem 11. Plenum des Zentralkomitees der SED, das als „Kahlschlag-Plenum“ in die Geschichte eingehen sollte.

 

 

 

 

Filmstill zu "Jakob der Lügner"

Manuela Simon und Vlastimil Brodský in JAKOB DER LÜGNER (R: Frank Beyer, 1974). Fotograf: Herbert Kroiss

Filmstill zu "Jakob der Lügner"

Henry Hübchen in JAKOB DER LÜGNER (R: Frank Beyer, 1974). Fotograf: Herbert Kroiss

Keine Unterstützung aus Polen und kein Drehbeginn

Der Drehstart für JAKOB DER LÜGNER war für Herbst 1966 anvisiert. Im Frühjahr begann Beyer zusammen mit Jurek Becker mit der Drehortsuche in Polen. Unmittelbar nach der Reise kamen aus dem Nachbarland Signale, dass man das Projekt nicht unterstützen und mitproduzieren werde. Für Beyer war das ein harter Schlag, wie er in seiner Autobiografie ‚Wenn der Wind sich dreht’ bekennt: „Das hieß, wir hatten keine Möglichkeit, Außenaufnahmen in Krakau zu drehen und auch keine Chance, polnische Schauspieler zu engagieren. Denn mit einem eigenen Stab nach Krakau zu reisen, dort alle Leistungen in DDR-Mark zu bezahlen und polnische Mitwirkende auf die gleiche Weise zu verpflichten, war ausgeschlossen.“ Über die Gründe mutmaßte Beyer später in einem Gespräch mit dem Filmpublizisten Ralf Schenk: „Das hängt mit dem komplizierten Verhältnis der Polen zu ihren jüdischen Mitbürgern in der Vergangenheit zusammen. Neben Akten der Solidarität während des Krieges gab es ja auch Verrat und Antisemitismus. Das war aber damals ein Tabuthema in Polen.“ (‚Regie: Frank Beyer‘, S. 62) Beyer bat daraufhin den neuen DEFA-Studiodirektor Franz Bruk den Drehstart von JAKOB DER LÜGNER zu verschieben.

 

 

Filmstill zu "Jakob der Lügner"

Henry Hübchen und Vlastimil Brodský in JAKOB DER LÜGNER (R: Frank Beyer, 1974). Fotograf: Herbert Kroiss

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Erwin Geschonneck in JAKOB DER LÜGNER (R: Frank Beyer, 1974). Fotograf: Herbert Kroiss

Verbot von SPUR DER STEINE und die Folgen

Parallel verschärften sich die politischen Spannungen um Beyers SPUR DER STEINE, der kurz nach der Premiere im Sommer 1966 aus dem Programm entfernt wurde. Erst 23 Jahre später konnte der Film wieder gezeigt werden. Da Beyer sich nicht von SPUR DER STEINE distanzieren wollte, folgte seine disziplinarische Versetzung an ein Theater, um sich dort zu bewähren. De facto kam dies einem Berufsverbot als Filmregisseur gleich. Eine Verfilmung von JAKOB DER LÜGNER rückte in weite Ferne. Nach einem Engagement am Dresdner Schauspielhaus unter der Intendanz des späteren DEFA-Generaldirektors Hans-Dieter Mäde, war Beyer ab 1969 als Regisseur für das DDR-Fernsehen tätig und realisierte die Mehrteiler ROTTENKNECHTE (1971) und DIE SIEBEN AFFÄREN DER DOÑA JUANITA (1973).

Zeit des Wartens: Erst ein Roman

Da sich eine Verfilmung von JAKOB DER LÜGNER nicht abzeichnete, schrieb Becker das Skript zu einem Roman um, der 1969 im Aufbau-Verlag erschien und ohne die Verzögerungen der Filmproduktion wohl nie verfasst worden wäre. 1970 folgte eine Veröffentlichung im westdeutschen Luchterhand-Verlag. Für Becker wurde das Werk zum größten Erfolg seiner schriftstellerischen Tätigkeit. Der Erfolg des Buchs führte zu Bemühungen des ZDF, die Verfilmungsrechte zu erwerben. Die Hauptrolle sollte mit Heinz Rühmann prominent besetzt werden. Becker lehnte in Rücksprache mit Frank Beyer ab. Er wollte die Verfilmung unbedingt mit seinem Wunsch-Regisseur verwirklichen.

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Vlastimil Brodský, Manuela Simon und Henry Hübchen in JAKOB DER LÜGNER (R: Frank Beyer, 1974). Fotograf: Herbert Kroiss

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Henry Hübchen und Blanche Kommerell in JAKOB DER LÜGNER (R: Frank Beyer, 1974). Fotograf: Herbert Kroiss

Drehstart nach sieben Jahren Unterbrechung

Filmstill zu "Jakob der Lügner"

Vlastimil Brodský

in JAKOB DER LÜGNER (R: Frank Beyer, 1974). Fotograf: Herbert Kroiss

1973 kam JAKOB DER LÜGNER, wohl auch aufgrund des Bucherfolgs, nach sieben Jahren des Wartens erneut auf den Produktionsplan des DEFA-Spielfilmstudios. Frank Beyer übernahm die Regie, seine langjährigen künstlerischen Weggefährten – Günter Marczinkowsky (Kamera), Alfred Hirschmeier (Szenenbild) und Joachim Werzlau (Musik) – wurden Teil des Produktionsteams. Becker und Beyer erarbeiteten eine neue Drehbuchfassung. Die erste Fassung sah unter anderem die Befreiung des Ghettos durch die Rote Armee vor. Anders als in den ursprünglichen Planungen sollte der Film nun in Farbe gedreht werden. Ein Novum im Werk Beyers. Der Regisseur erinnerte sich später an die sorgsam erarbeitete Farbdramaturgie: „Wir drehten auf Kodak; außer den Gesichtstönen und dem Judenstern gibt es in der Gegenwartsebene keinerlei Farben, das Ghetto ist grau und graubraun. Die märchenhaften Erinnerungen wirken dagegen bunt, bonbonfarben, sie sind auf ORWO-Material gedreht. Wir versuchten, die Farbe konsequent als Stilmittel für die parabelhafte Geschichte zu nutzen.“ Die Dreharbeiten erfolgten zwischen dem 12. Februar und dem 22. Mai 1974 u.a. in Nauen und im tschechischen Most – ohne polnische Beteiligung. Für die Hauptrolle wurde der tschechische Schauspieler Vlastimil Brodský gewonnen, der bereits 1966 Beyers Wunschkandidat für die Darstellung des Jakob war. Synchronisiert wurde er von Norbert Christian.

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Regisseur Frank Beyer im Gespräch mit Vlastimil Brodský bei den Dreharbeiten zu JAKOB DER LÜGNER (R: Frank Beyer, 1974). Fotograf: Herbert Kroiss

Filmstill zu "Jakob der Lügner"

Austausch zwischen Frank Beyer und Jurek Becker bei den Dreharbeiten zu JAKOB DER LÜGNER (R: Frank Beyer, 1974). Fotograf: Herbert Kroiss

Premiere im Fernsehen

JAKOB DER LÜGNER entstand als Co-Produktion zwischen dem DDR-Fernsehen und der DEFA. Heinz Adameck, Leiter des Staatlichen Komitees für Fernsehen der DDR, erwirkte einen Beschluss, dass JAKOB DER LÜGNER zuerst im Fernsehen lief. Auch ein Protest Frank Beyers konnte dies nicht verhindern. Ein Großteil des Publikums sah den Film daher am 22. Dezember 1974 auf kleinen Bildschirmen und in schwarz-weiß statt in Farbe. Der Kinostart folgte erst Monate später am 18. April 1975. Die Filmkritikerin Rosemarie Rehahn kommentierte dies in ihrer Besprechung in der Wochenpost im April 1975 mit den Worten: „Endlich ist Kinopremiere (...) ich sage endlich, weil der Zuschauer, der den Film auf dem Bildschirm sah, nur den Abglanz eines Kunstwerks gesehen hat.“ Die Kritiker urteilten insgesamt positiv. Renate Holland Moritz hob im Eulenspiegel am 14. Februar 1975 insbesondere den Verzicht auf Brutalität hervor: „Frank Beyer bewirkt emotionale Erschütterung durch Indirektheit.“ Für die Zuschauerzahlen im Kino war die vorherige TV-Premiere trotz des positiven Feedbacks wenig förderlich, weniger als 200.000 Menschen sahen JAKOB DER LÜGNER 1975 in den DDR-Kinos.

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Reimar Johannes Baur und Armin Mueller-Stahl in JAKOB DER LÜGNER (R: Frank Beyer, 1974). Fotograf: Herbert Kroiss

Filmstill zu "Jakob der Lügner"

Henry Hübchen und Manuela Simon in JAKOB DER LÜGNER (R: Frank Beyer, 1974). Fotograf: Herbert Kroiss

Echo: Berlinale und Oscar-Nominierung

Am 6. Juli 1975 lief JAKOB DER LÜGNER im West-Berliner Zoopalast in Anwesenheit von Frank Beyer und Jurek Becker als erster DEFA-Film im Wettbewerb der Internationalen Filmfestspiele Berlin. Hauptdarsteller Vlastimil Brodský wurde von der Jury um Präsidentin Sylvia Syms für seine schauspielerische Leistung mit einem Silbernen Bären bedacht. 1977 folgte die Nominierung für den Oscar als bester fremdsprachiger Film. Bei der Verleihung am 28. März 1977 hatte JAKOB DER LÜGNER gegen LA VICTOIRE EN CHANTANT (auch: NOIRS ET BLANCS EN COULEURS, R: Jean-Jacques Annau, 1976) das Nachsehen. Für Beyer, der zur Verleihung in die USA reiste, eine schmerzliche Erfahrung: „(...) wenn der Moment kommt und die Stimme sagt ‚The winner is...’ und man hat den Hintern schon halb aus dem Sessel und ist es dann doch nicht... Ich würde mich einer solchen Prozedur nicht mehr aussetzen“ (Frank Beyer zu Ralf Schenk in ‚Regie: Frank Beyer‘, S. 75).

Verfasst von Philip Zengel. Februar 2023

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