Schüsse unterm Galgen
„Action!“ lautet das Motto des diesjährigen Film-Restored-Festivals der Deutschen Kinemathek. Das Programm der Streamingplattform Selects greift das Thema ab dem 15. Oktober auf und präsentiert u.a. den DEFA-Abenteuerfilm SCHÜSSE UNTERM GALGEN (R: Horst Seemann, 1968), der mit Mitteln aus dem Förderprogramm Filmerbe in Zusammenarbeit mit Kameramann Jürgen Brauer hochwertig digitalisiert wurde.
Kurzinhalt

SCHÜSSE UNTERM GALGEN
(R: Horst Seemann, 1968) Grafiker: Peter Nagenast
Mitte des 18. Jahrhunderts in Schottland. Auf dem Sterbebett verrät ein verarmter Lehrer seinem ahnungslosen Sohn David (gespielt von Werner Kanitz), dass er der rechtmäßige Erbe eines Lordtitels und großen Reichtums ist. Auf der Lordschaft residiert aktuell Ebenezer Balfour, der Zwillingsbruder von Davids Vater (beide Herwart Grosse), mit seinem Löwen James. Ebenezer ist von den Ansprüchen Davids nicht begeistert: Er lässt seinen Neffen entführen und als Sklaven nach Amerika verschiffen. In der Magd Catriona (Alena Procházková) und dem Rebellen Alan Breck (Thomas Weisgerber) findet David Verbündete im Kampf für Gerechtigkeit…
Produktionsnotizen
SCHÜSSE UNTERM GALGEN wurden zwischen dem 2. August 1967 und dem 16. Januar 1968 im Breitbildformat Totalvision u.a. auf dem Darß, am Lichtenhainer Wasserfall im Elbsandsteingebirge und in der Hohen Tatra gedreht. Premiere feierte der Film anlässlich der publikumsstarken DDR-Sommerfilmtage am 22. Juni 1968 auf der Freilichtbühne im Schweriner Schlossgarten. Mehr als 1,2 Millionen Zuschauerinnen und Zuschauer sahen den Film in den DDR-Kinos.
Ein Mantel-und-Degen-Abenteuer
Das Genre des Mantel-und-Degen-Films erfreute sich beim DDR-Kinopublikum der 1960er-Jahre großer Beliebtheit, war in den Produktionsplänen des DEFA-Studios für Spielfilme zunächst jedoch noch eine Randerscheinung. Bedient wurde das Genre in den DDR-Kinos insbesondere über Produktionen aus Frankreich, Italien und Spanien, darunter DER RITTER VON PARDAILLAN (R: Bernard Borderie, 1962), CARTOUCHE – RÄCHER DER ARMEN (R: Philippe de Broca, 1961) oder DER RÄCHER MIT DEM DEGEN (R: Antonio Isasi-Isasmendi, 1963). 1964 wagte die DEFA mit Manfred Krug in MIR NACH, CANAILLEN! (R: Ralf Kirsten) einen eigenen und kommerziell erfolgreichen Versuch eines Mantel-und-Degen-Abenteuers. Bis in die 1970er-Jahre entstanden weitere Filme dieser Art – meist mit Krug in der Hauptrolle. An die Publikumserfolge der ebenfalls Mitte der 1960er-Jahre gestarteten „DEFA-Indianerfilme“ mit Gojko Mitić konnten diese Filme aber nicht vollumfänglich anknüpfen.

Großes steht bevor: Schauspielstudent Werner Kanitz als David Balfour in seiner ersten Kinohauptrolle. Fotograf: Eberhard Daßdorf

Mit letzter Kraft berichtet Davids Vater (Herwart Grosse) seinem Sohn (Werner Kanitz) von seinem Erbe. Fotograf: Eberhard Daßdorf
Regie: Horst Seemann
Horst Seemann (1937–2000) zählte in der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre zu den ambitionierten Nachwuchsregisseuren der DEFA. Bereits mit seinem 1967 erschienen Kino-Erstling, dem Filmmusical HOCHZEITSNACHT IM REGEN, bemühte er sich, neue Ausdrucksformen im Genrekino zu finden. Diese Versuche setzte er mit SCHÜSSE UNTERM GALGEN im Bereich des Abenteuerfilms fort. Hans-Dieter Tok rechnete dem Regisseur in der Leipziger Volkszeitung vom 22. Juni 1968 hoch an, dass er „um eine künstlerische Aufwertung dieses vielgefragten Genres bemüht“ sei. Dahingehend traf Seemann auch bemerkenswerte Entscheidungen: Er verzichtete beispielsweise darauf, SCHÜSSE UNTERM GALGEN in Farbe zu drehen und stellte damit die künstlerische Vision über Vermarktungsargumente.
Bereits im Frühwerk Seemanns wird eine große Verbundenheit und Leidenschaft zur Musik deutlich, die stets eine wichtige Rolle in seinen Filmen einnimmt. Später komponierte er die Filmmusik seiner Produktionen oftmals selbst. Kritiker Herbert König hob in seiner Besprechung zu SCHÜSSE UNTERM GALGEN Seemanns Bemühungen hervor, „der Musik handlungsfördernde Funktionen zu geben“ und fühlte sich in einigen Sequenzen an „große Oper“ erinnert (vgl. Magdeburger Volksstimme, 3. Juli 1968).

Fordernde Dreharbeiten bei inszenierter stürmischer See in Babelsberg. Fotograf: Eberhard Daßdorf

Voller Einsatz von Jürgen Brauer an der Kamera. Dahinter: Horst Seemann. Fotograf: Eberhard Daßdorf
Verfilmung nach Robert Louis Stevenson

Nico Turoff
als Henker in SCHÜSSE UNTERM GALGEN. Fotograf: Eberhard Daßdorf
SCHÜSSE UNTERM GALGEN basiert auf der 1886 erschienenen Erzählung „Kidnapped“ des schottischen Schriftstellers Robert Louis Stevenson (1850–1894). Zudem flossen Elemente des Romans „Catriona“ (1892/93) des gleichen Autors ein.
Um Genreklischees zu vermeiden, rückte Seemann, der neben der Regie auch das Drehbuch verantwortete, anstelle des klassischen „Gut-gegen-Böse“-Konflikts die Gegensätze Freiheit versus Unterdrückung sowie Recht versus Unrecht in den Mittelpunkt. Im Interview gab Seemann an, dass er, um zeitliche Bezüge zur Gegenwart herzustellen, „über die Sicht des bürgerlich-kritischen Realisten Stevenson hinausgehen“ musste (zitiert nach Liberal Demokratische Zeitung, 1. Juli 1968) und konkretisierte: „Es ging mir nicht darum [...] den Zeitraum um 1750 naturalistisch aufzufassen, sondern großzügig im Sinne der gesellschaftlichen Wahrheit und der eindeutigen sozialen Struktur der Charaktere zu verfahren“ (ebd.). An anderer Stelle ergänzte er: „Dabei soll das Ganze auch komische Züge tragen, ohne dass die Gefährlichkeit bestimmter Gestalten verloren geht. Was ich beabsichtige, ist Heiterkeit aus der Überlegenheit unserer Haltung gegenüber der Historie zu entwickeln“ (Filmspiegel, 1968/15). Einigen Kritikern gingen Seemanns gesellschaftskritische Bezüge in die Gegenwart zu weit: „Man glaubt, am schottischen Horizont schon die roten Fahnen flattern zu sehen“, stellte Constanze Pollatschek bemerkenswert deutlich in der „Wochenpost“ fest (Ausgabe 29/1968).
Retrospektiv äußerte sich Seemann, der grundsätzlich die Meinung vertrat, dass sämtliche Literatur verfilmbar sei, selbstkritisch über seine erste literarische Adaption. Den Versuch die Stevenson-Geschichten miteinander zu verknüpfen, betrachtete er 15 Jahre später als „fragwürdiges Prinzip“ (vgl. „Aus Theorie und Praxis des Films“, 2/1983, S. 7).
Echo: „Ironie oder Ernst?“
... fragte „Die Union“ in der Ausgabe vom 7. Juli 1968 und wies damit bereits in der Überschrift auf die meistdiskutierte Frage in den Besprechungen der DDR-Filmkritik zu SCHÜSSE UNTERM GALGEN hin: Meint Horst Seemann seinen Film ernst oder ironisch? Während der Filmspiegel noch wohlwollend einen „Hauch von Persiflage“ (Ausgabe 1968/15) in dem Abenteuerfilm wahrnahm, gingen andere Kritiker mit den stilistischen Experimenten des Regisseurs deutlich härter ins Gericht und konnten mit den „recht abrupt anmutende[n] Wechsel[n] in Stimmung und Aussage“ wenig anfangen (vgl. Thüringer Tageblatt, 26. Juni 1968). Gelobt wurden hingegen die poetisch-kraftvollen Sequenzen des Films. Für Ursula Pape war SCHÜSSE UNTERM GALGEN gar ein „poetischer Märchenfilm“ (Freiheit, 25. Juni 1968). Insbesondere die vertrauten Szenen zwischen den beiden Nachwuchsdarstellern Werner Kanitz und Alena Procházková fanden in diesem Kontext wiederkehrend Erwähnung. In den Augen von Hans-Dieter Tok „atmen [diese Szenen] eine schöne, lichte Poesie“ (vgl. Leipziger Volkszeitung, 22. Juni 1968) – auch ein Verdienst des Kameramanns Jürgen Brauer.

„Lichte Poesie“: Werner Kanitz mit Alena Procházková vor der Kamera. Fotograf: Eberhard Daßdorf

Gebucht für das ernste oder das heitere Rollenfach? Herwart Grosse und Werner Lierck. Fotograf: Eberhard Daßdorf
Großes Ensemble und zwei Newcomer

Dreharbeiten statt Urlaub
Thomas Weisgerber in SCHÜSSE UNTERM GALGEN (R: Horst Seemann, 1968) Fotograf: Eberhard Daßdorf
Für seinen Film versammelte Horst Seemann eine Vielzahl bekannter und beliebter Darstellerinnen und Darsteller, die zum Teil in Kleinstrollen auftraten, darunter Gerd E. Schäfer, Edgar Külow, Herbert Köfer, Carmen-Maja Antoni, Kati Székely, Hans Hardt-Hardtloff, Helmut Schreiber und Peter Dommisch. Herwart Grosse feierte als Ebenezer Balfour eine Wiederauferstehung auf der Kinoleinwand, nachdem er wenige Minuten zuvor in der Rolle von Davids Vater den Filmtod starb. Bei einem Drehbesuch auf dem Darß von Lothar Heinke für „Der Morgen“ zeigte sich Alan-Breck-Darsteller Thomas Weisgerber begeistert von den Dreharbeiten: „Solch eine Rolle bekommt man nur alle zehn Jahre angeboten – ich könnte mich nicht erinnern, für einen Film meinen Urlaub unterbrochen zu haben – hier tat ich’s.“ (Ausgabe vom 20. August 1967)
Für die zwei Hauptfiguren Catriona und David wählte Seemann zwei dem DDR-Kinopublikum bisher unbekannte Gesichter. Die junge Tschechin Alena Procházková wurde von Jutta Hoffmann synchronisiert. Der Babelsberger Schauspielstudent Werner Kanitz, dessen Ähnlichkeit zum französischen Schauspieler Jean-Paul Belmondo in der DDR-Presse mehrfach hervorgehoben wurde, überzeugte in seiner ersten und einzigen DEFA-Hauptrolle.
Jede Menge Action
Trotz aller stilistischen Experimente: An actionreichen Szenen mangelte es in SCHÜSSE UNTERM GALGEN nicht. Vor allem Thomas Weisgerber und Werner Kanitz mussten in zahlreichen Szenen ihr sportliches Können unter Beweis stellen. Es galt zu fechten, springen, klettern und zu schießen. Kanitz ließ sich sogar, auf dem Boden liegend, hinter einem galoppierenden Pferd herziehen. Mit der Einbindung eines ausgewachsenen, männlichen Löwens in die Handlung wollten die Filmschöpfer für zusätzlichen Schauwert sorgen. Für das Schauspiel-Ensemble wurden bei so viel Action mitunter Grenzen überschritten. So berichtete Hans Hardt-Hardtloff einige Monate später, warum eine abenteuerliche Schlechtwetterszene auf einem in Babelsberg nachgebauten Schiff der schlimmste Drehtag seiner Karriere war: „500 Liter Wasser – kaltes Wasser – stürzten auf mich herab [...] dazu spritzte die Feuerwehr mit mehreren C-Rohren. Damit das Wasser schön schäumt, hatte man ihm irgendein Waschmittel beigegeben. Ich schäumte auch, aber vor Wut, weil mir die Augen so brannten. Das Ganze wurde sechsmal geprobt und viermal gedreht.“ (Neues Deutschland, 29. Dezember 1968)

Thomas Weisgerber und Werner Kanitz zeigen bei stürmischer See vollen Einsatz. Fotograf: Eberhard Daßdorf

Ungewöhnlicher Drehpartner: Alena Procházková mit einem echten Löwen. Fotograf: Eberhard Daßdorf
Für Kinder geeignet?
Die Gewaltdarstellungen im Film hatten harsche Kritik an der Altersfreigabe des Films ab sechs Jahren zur Folge. So intervenierte die Rostocker Philologin Liselot Huchthausen per Brief beim Ministerium für Volksbildung der DDR gegen die Einstufung: „Kinder dieser Altersstufe (6 bis 12 Jahre) können den Gehalt eines derartigen Films nämlich noch gar nicht erfassen [...] Sie halten sich notgedrungen an die drastisch ausgespielten Einzelszenen. Dabei besteht durchaus die Gefahr, dass Kinder eine Szene des Films im Spiel wiederholen [...] das Aufhängen eines Menschen [...] biete[t] wahrhaftig keine geeigneten Vorbilder. In der Praxis kann man ja leider nicht damit rechnen, dass der Held im letzten Augenblick auftaucht, um das Äußerste zu verhüten.“ In der Folge wurde der Film Ende Juli 1968 in die Kategorie P14 hochgestuft – für Kinder unter 14 Jahren nicht zugelassen.
Verfasst von Philip Zengel. (September 2025)