Filmstill zu "Tanz auf der Kippe"

Tanz auf der Kippe

„Gekurbelt, Entfesselt, Bunt, Digital. Kameratechnik und Filmkunst in der deutschen Kinematografie“ lautet das Motto des 19. Internationalen Filmerbe-Festivals „cinefest“, das vom 11. bis 20. November 2022 in Hamburg stattfindet. Im Programm finden sich Werke der renommierten DEFA-Kameramänner Werner Bergmann, Jürgen Brauer, Roland Dressel und Otto Hanisch, deren Ideen und handwerkliches Können hervorstechen. Brauers Jugend-Wendefilm TANZ AUF DER KIPPE, der am 18. November 2022, 19:00 Uhr, im Hamburger Metropolis Kino und in Anwesenheit des Filmemachers präsentiert wird, ist unser DEFA-Film des Monats.

Kurzinhalt

Filmplakat zu "Tanz auf der Kippe"

TANZ AUF DER KIPPE

(R: Jürgen Brauer, 1990/91) Grafiker: Hans-Eberhard Ernst

7. Oktober 1989. Der 17-jährige Schüler Gerat wird auf einer Müllkippe überfallen und sein Gesicht in eine ätzende Lauge gedrückt. Er erblindet. Parallel laufen die Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der DDR über die Fernsehbildschirme. In Rückblenden erfährt der Zuschauer die Hintergründe, die zum Überfall führten. TANZ AUF DER KIPPE erzählt von einem Jungen, der mit den Bedingungen der Zeit nicht zurechtkommt. Gerat möchte sich nicht an gesellschaftliche Normen anpassen, will stets die Wahrheit sagen und erträgt Ungerechtigkeiten nur schwer. Mit Elan und Überzeugung singt er den Blue-Jeans-Song des Edgar Wibeau aus Ulrich Plenzdorfs Theaterstück „Die neuen Leiden des jungen W“. Gerat handelt ohne Rücksicht auf mögliche persönliche Konsequenzen und stößt mit seinem Verhalten andere vor den Kopf. Verstanden fühlt er sich nur von seiner Lehrerin Claudia, in die er sich verliebt.

 Hier finden Sie die vollständigen Filmdaten.

Produktionsnotizen

TANZ AUF DER KIPPE entstand nach dem Roman „Augenoperation“ des Schriftstellers Jurij Koch. Bereits 1989 verfilmte Jürgen Brauer mit SEHNSUCHT eine Novelle des sorbischen Autors. Regisseur Jürgen Brauer erinnerte sich in einem Zeitzeugengespräch mit der DEFA-Stiftung, dass das Drehbuch von TANZ AUF DER KIPPE ein Jahr vor der Wende nicht zur Verfilmung freigegeben wurde. Erst nach dem Mauerfall konnte das Projekt realisiert werden. Die Einbindung der politischen Ereignisse der Vorwendezeit in das Skript erfolgte nachträglich. Gedreht wurde zwischen dem 24. Juli und 30. September 1990.

Originial-Kinotrailer von TANZ AUF DER KIPPE (R: Jürgen Brauer, 1990/91)

Jürgen Brauer: Regie, Kamera und Drehbuch

Jürgen Brauer (*1938) ist ab Mitte der 1960er-Jahre gefragter Kameramann bei der DEFA und verantwortete in dieser Funktion mehrere Filme von Heiner Carow, Günter Reisch und Horst Seemann. 1980 realisierte er mit der Adaption des Alfred-Wellm-Romans PUGOWITZA sein Debüt als Regisseur. Zusammen mit Günther Rücker inszenierte er mit HILDE, DAS DIENSTMÄDCHEN (1986) einen weiteren historischen Stoff. Mehrfach drehte Brauer Filme, die sich insbesondere an ein junges Publikum richten, darunter das Märchen GRITTA VON RATTENZUHAUSBEIUNS (1984) und die Adaption des Benno-Pludra-Buches DAS HERZ DES PIRATEN (1987). Sein letztes DEFA-Projekt war die Co-Produktion ANNA ANNA (1993), die er in Co-Regie mit der schweizerischen Regisseurin Greti Kläy verwirklichte. In TANZ AUF DER KIPPE bediente sich Brauer einer metaphorischen und symbolhaften Bildsprache. Besonders in Erinnerung bleibt die titelgebende Szene, in der Gerat und Claudia zu den Klängen des Songs „I Want Two Wings“ der international bekannten Gospelgruppe Golden Gate Quartett über die Müllkippe tanzen, nachdem sie das DDR-Nachrichtenprogramm stumm geschaltet haben. Der Filmverleih PROGRESS stellte in seinen Begleitmaterialien zum Film die Leistungen Brauers würdigend heraus, der „einen verhältnismäßig spröden Stoff für die Leinwand vor allem optisch erschlossen“ habe. Brauer, so heißt es weiter „komponierte (...) Bilder, die in ihrer Trostlosigkeit beklemmend wirken, aber den Blick auf das Wesentliche lenken.“

 

 

TANZ AUF DER KIPPE zu den Klängen des Songs „I Want Two Wings“ des Golden Gate Quartetts.

In wichtigen Rollen: Stieren, Manzel und Glatzeder

Frank Stieren feierte mit der Rolle des Gerat noch vor Beendigung des Schauspielstudiums sein Filmdebüt. Kurz darauf folgte ein weiteres Engagement in Andreas Kleinerts Spielfilm VERLORENE LANDSCHAFT (1992). Später war Stieren in zahlreichen deutschen Fernsehfilmen und -serien zusehen, u.a. an der Seite von Barbara Rudnik und Alexandra Maria Lara. Dagmar Manzel war zum Zeitpunkt der Dreharbeiten von TANZ AUF DER KIPPE bereits eine etablierte Theaterschauspielerin, die am Deutschen Theater in Berlin Erfolge feierte. Bei der DEFA übernahm sie Hauptrollen in den Heiner-Carow-Filmen SO VIELE TRÄUME (1986) und COMING OUT (1989). Mit zahlreichen Auftritten in Kino- und Fernsehproduktionen sowie als Musical- und Operettensängerin und in Liederabenden an der Komischen Oper Berlin zählt sie zu den gefragtesten deutschen Schauspielerinnen. Lob fand in den zeitgenössischen Kritiken auch die Darstellung des Vaters durch Winfried Glatzeder. Nach seiner Ausbürgerung in die BRD 1982 wirkte Glatzeder erstmals wieder in einer DEFA-Produktion mit. In der Rolle des Augenmediziners ist der renommierte Arzt Dirkpeter Schulze zu sehen, der 26 Jahre als Chefarzt an der Potsdamer Augenklinik arbeitete. Das heutige „Ernst von Bergmann Klinikum“ war Drehort vieler Szenen von TANZ AUF DER KIPPE.

 

Filmstill zu "Tanz auf der Kippe"

Frank Stieren und Dagmar Manzel in TANZ AUF DER KIPPE (R: Jürgen Brauer, 1990/91) Fotograf: Waltraut Pathenheimer, Matthias Leupold

Filmstill zu "Tanz auf der Kippe"

Winfried Glatzeder in TANZ AUF DER KIPPE (R: Jürgen Brauer, 1990/91) Fotograf: Jürgen Brauer

Coming-of-Age in der Wendezeit

In der Vorwende- und Wendezeit entstand bei der DEFA eine Reihe von Filmen mit starken jugendlichen Protagonisten. Die Produktionen stehen in der Tradition gesellschaftskritischer DDR-Gegenwartsfilme und waren in dieser offenen, gesellschaftsanalytischen Form erst in den Wendemonaten möglich. Die aufgegriffenen Themen und Konflikte sind auch heute noch aktuell und können aus ihrer Entstehungszeit herausgelöst diskutiert werden. Die jungen Filmhelden agieren in einem Spannungsfeld von Gefühlen des Aufbruchs und Aufbäumens auf der einen und Resignation und Entmutigung auf der anderen Seite. Vermittelt wird ein Gefühl für die Wendezeit aus jugendlicher Perspektive: Was bedeutete es Ende der 1980er Jahre in der DDR erwachsen zu werden? Welche Themen, Gedanken, Sorgen und Nöte beschäftigten die Jugendlichen? Wie war ihr Verhältnis zur Eltern-Generation? In welcher Form war Auflehnung möglich?

Die 1989/90 produzierten Filme kamen in einer Zeit des Umbruchs und der Ungewissheit in die Kinos. Nachdem die Drehbücher und Szenarien aufgrund ihrer zum Teil deutlichen DDR-Kritik mitunter jahrelang nicht realisiert werden konnten, wurden die Stoffe nun von den politischen Entwicklungen der Wendejahre eingeholt. Themen, die ein paar Jahre zuvor ein politisches Erdbeben in der DDR ausgelöst hätten, hatten 1990 an Relevanz eingebüßt. In gesellschaftlichen Diskursen und bei der Meinungsbildung spielten die Filme keine Rolle mehr. Wer sich seinerzeit einen Kinobesuch leistete, wollte dem Alltag entfliehen und nicht mit den alltäglichen Problemen der Jugend eines sich in Auflösung befindenden Staates konfrontiert werden – und für Filmstoffe aus einem untergegangenen Land bestand kein Markt. Die Filme wurden zwar in Programmkinos und auf Filmfestivals präsentiert, doch das breite Publikum ließ sich nicht mehr auf diese Filme ein.

Viele der Produktionen, darunter ABSCHIEDSDISCO (Rolf Losansky, 1989), BIOLOGIE! (Jörg Foth, 1990), und VERBOTENE LIEBE (Helmut Dziuba, 1990), sind beim DEFA-Filmverleih als digitale Verleihkopie für Kinobuchungen verfügbar. Bei Absolut Medien sind die Filme auch auf DVD und als Video-on-Demand zu erhalten.

 

Filmstill zu "Tanz auf der Kippe"

Frank Stieren in TANZ AUF DER KIPPE (R: Jürgen Brauer, 1990/91) Fotograf: Jürgen Brauer

Filmstill zu "Tanz auf der Kippe"

Dagmar Manzel und Frank Stieren in TANZ AUF DER KIPPE (R: Jürgen Brauer, 1990/91) Fotograf: Jürgen Brauer

Echo

Am 16. Februar 1991 feierte TANZ AUF DER KIPPE auf den Internationalen Filmfestspielen Berlin seine Uraufführung und eröffnete die Sektion Panorama. Die Kritikermeinungen reichten weit auseinander. Während Frank-Burkhard Habel im „Filmklub-Kurier“ der Produktion auch Chancen im Wettbewerb des Festivals zugebilligt hätte, begann Henryk Goldberg im „Neuen Deutschland“ seine Filmbesprechung mit den Worten: „Ich sage es nicht so gern, aber dieser Film interessiert mich nicht.“ Goldberg verdeutlicht mit diesem Einstieg, warum TANZ AUF DER KIPPE – und vielen weiteren DEFA-Wendefilmen – seinerzeit nur eine kleine Kinoauswertung beschieden war: Die Stoffe konnten mit den tagesaktuellen Entwicklungen nicht mithalten, büßten an Schlagkraft ein und trafen nicht mehr den Nerv des Publikums. Heute zählt TANZ AUF DER KIPPE zu den spannendsten filmischen Dokumenten der Umbruchszeit, beschreibt die Chancen und Risiken des Wechselspiels zwischen „alten“ Stoffen und neuen Freiheiten.

Verfasst von Philip Zengel. (November 2022)

absolut MEDIEN

DEFA-Wendejugend

Bei absolut MEDIEN erschien die digital restaurierte Fassung des DEFA-Jugendfilms TANZ AUF DER KIPPE (Jürgen Brauer, 1990) zusammen mit VORSPIEL (Peter Kahane, 1987) auf DVD. Weitere Jugendfilme aus der Wendezeit sind ebenfalls verfügbar.

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